Keine Experimente bitte

Die Vergütungen von Firmenchefinnen und -chefs kletterten im vergangenen Jahr im Schnitt um 16 Prozent auf 3,7 Millionen Euro. Das beweist: „Die Hochqualifizierten“ (Lindner-Jargon) oder auch „Die Kleptokraten“ (mein Jargon), also das leitende Personal (Medien-Sprech), konnte ganz hervorragende Leistungen vorweisen. Die Umverteilung von Unten nach Oben verläuft weiterhin erfreulich zukunftsweisend, was der Vergrößerung der Einkommensungleichheit außerordentlich gut tut. Und das ist großartig! Vor allem, wenn man bedenkt, dass die Dax-Unternehmen insgesamt eher stagnierende Umsätze und Gewinne verzeichnen. Also, das macht der deutschen Wirtschaft und ihrem politischen Arm so schnell niemand nach… In dieser komfortablen Lage kommen Streiks in großen Industrieunternehmen, Z.B. bei VW, doch eher ungelegen, vor allem, wenn unverbesserliche linksradikale Hooligans mit der Behauptung in den Wahlkampf ziehen, es wäre wesentlich lukrativer, statt ganzer Belegschaften die Vorstände der 40 größten Dax-Unternehmen zu feuern. Aber ich verstehe natürlich, dass es ein geradezu verlockender Gedanke ist, aus aktuellem Anlass die 20 Personen im Aufsichtsrat des VW-Konzerns in die Obdachlosigkeit zu schicken. Es wäre auch lustfördern und innovativ, die Großaktionäre aus der Erbenfamilie Porsche-Piëch, die Scheichs von der Investmentbehörde des Staates Katar sowie die niedersächsischen Politiker und Politikerinnen, die sich als VW-Aktionäre betätigen, am Lebensmittelabholdienst der Wolfsburger Tafel begrüßen zu dürfen. Und Selbstverständlich würde es großen Spaß machen, die neun Figuren im Vorstand der Volkswagen AG als Bettler mit Pappbechern in den Händen an Braunschweiger Straßenecken zu verteilen. Und die Mitglieder vom Kontrollgremium wie auch alle anderen Management-Persönlichkeiten in ihren Schlafsäcken vor dem Wolfsburger Job-Center zu beobachten, wie sie darauf warten, von der Polizei verjagt zu werden – auch diese Vorstellung hat etwas grundsätzlich Erheiternd-Positives.
Doch so hat Systemveränderung noch nie funktioniert, jedenfalls nicht für längere Zeit. Und ich habe auch nicht den Eindruck, dass revolutionäre Kräfte sich mit so einem herzerfrischenden Szenario werden durchsetzen können. Unser demokratisches Erfolgssystem sieht im Gegenteil vor, dass der CEO eine satte Erhöhung bekommt, wenn seine Firma nur noch Arbeitslose produziert. Das moderne Credo unserer wirtschaftspolitischen Führungsschicht lautet einvernehmlich: Je mehr Scheiße du baust, desto schneller wächst dein Einkommen. Und es ist ja auch nicht auszuschließen, dass VW demnächst Panzer mit E-Antrieb und solarbetriebene Marschflugkörper baut…
 Und als Erkenntnisgewinn fällt für uns Fahrradfahrer ab: Nichts ist zur Zeit erfolgreicher als Erfolglosigkeit. Eine revolutionäre Situation gibt es erst dann, wenn die oben nicht mehr können und die unten nicht mehr wollen. Oder umgekehrt.

22.11.24


Ein Anarchistischer Best-Ager (Befindlichkeitsstatement)

Wir nehmen den Verfasser dieses Textes mal in Augenschein: Das Haar ist weiß bis gräulich und vor allem schütter. Die Kopfhaut scheint durch. Der Blick durch die Sehhilfe ist häufig abwesend oder verzweifelt, vor allem, wenn er die Sehhilfe, die er sich auf die Stirn geschoben hat, in der ganzen Wohnung sucht. In den Nasenlöchern befindet sich die Nasenbrille – zwei Düsen pusten Atemhilfe aus dem Sauerstoffgerät ins Riechorgan. Am Nasensteg hängt gern ein Tropfen, vermutlich Gehirnflüssigkeit. Wenn er den Tropfen wegputzen will, muss er die Nasenbrille bis an die Nasenwurzel hochschieben. Dadurch verrutscht die Sehhilfe. Dann kann er sie nicht suchen.
Er hat einen respektablen Tatterich. Der erleichtert nicht gerade das Anziehen der Stützstrümpfe, und auch für das gesittete Benehmen bei Tisch ist das Zittern der Hände keine große Hilfe. Folglich isst er am liebsten mit dem Löffel. Wenn er’s mit herkömmlichen Mitteln versucht, wird das Essen schnell mal von der Gabel auf’s Tischtuch oder an die Wand geschleudert. Kaffeetasse oder Weinglas muss er mit beiden Händen greifen, wenn er vermeiden will, sich seine Getränke auf den Schoß zu kippen.
Beim Gehen benutzt er, wenn er ihn nicht vergisst, einen Krückstock zur Bekämpfung seiner Gleichgewichtsstörungen. Meistens lässt er ihn aber irgendwo stehen oder liegen, so dass er nach fünfzig Metern Fußweg umkehren und ihn holen muss. Er vergisst eben nicht, was er am liebsten vergessen würde… Aber die Krücke nicht im öffentlichen Personenverkehr zu vergessen, das setzt sehr oft die Aufmerksamkeit anderer Passagiere voraus.
Keinen Grund, mit ihm unzufrieden zu sein, bietet das Gebiss. Die Zähne sind gepflegt, fest verwurzelt und nicht rausnehmbar. Und, um dem allgemein großen Sicherheitsbedürfnis nachzukommen: im Schrank liegen die pissdichten Unterhosen, für alle Fälle. Er hofft, den Zeitpunkt , sie anzuziehen, nicht zu verpassen. Neue Hüft- und Kniegelenke allerdings besitzt er noch nicht, sie stehen aber ganz oben auf seiner Wunschliste. Er muss nur noch die entsprechenden Schmerzen entwickeln. Immerhin hat er seit einigen Tagen ein Hörgerät. Das wurde nötig, weil er – horribile dictu – nur noch raten konnte, was sein Gesprächspartner gerade gesagt hatte. Dadurch sind große Veränderungen in sein Leben getreten: Die Umweltgeräusche sind meistens viel zu laut, zu schrill oder gar nicht zu identifizieren, aber der Ton des Fernsehgerätes ist wahrnehmbar, auch wenn die Synchronisation noch so nuschelig und der Musiksound noch so dilettantisch gemischt ist. Immerhin – um Musik zu hören, braucht er nun nicht mehr die ihn komplett abschottenden Kopfhörer, und wenn er mal was sagt, hört er sich sogar selbst – ein bisschen blechern, aber laut. Alles Hören wird über das Handy gesteuert, und das bietet, wie man schon lange weiß, ein Maximum an Möglichkeiten, sich Probleme aufzuladen. Sein größtes Problem jedoch ist in dem Zusammenhang sein Tatterich. Mit den Zitterhänden die akustischen Hilfsgeräte – RIng/Schale/Kralle/Spange – in und außerhalb der Ohren fachgerecht zu installieren – das ist eine echte Herausforderung und mit vielen Verwünschungen begleitet. Noch schwieriger ist der Batteriewechsel: Die Batterien sind etwa so klein wie ein halber Marienkäfer (Coccinellida), die flutschen dem Tatterich aus den Fingern bis in die entlegensten Winkel…
Sein zur Zeit meist umkämpftes Krisengebiet ist die Region hinter seinen Ohren: Ohgottohgottohgott – wie gern hätte er raumgreifende Segelohren! Ohr ohne Raum – ein Albtraum! Der Raum hinter den Ohren sollte doch groß genug sein, um alles unterbringen zu können, was einem Greis ein menschenähnliches Leben ermöglicht: die Bügel der Brille, die Hörgeräte und den Schlauch des Sauerstoffgerätes.
Jetzt ist die Situation so: Wenn er, beispielsweise in einem Restaurant, die Sehhilfe abnimmt, weil die Gläser beschlagen sind, er aber dringend den Weg zur Toilette finden muss, reißt es auch Schlauch und Hörgeräte von den Ohren weg. Das Sauerstoffgerät fängt an zu piepen, weil die Sauerstoffbrille nicht mehr in den Nasenlöchern steckt, sondern irgendwo in Kniehöhe baumelt, das Hörgerät links kann er wegen des Tatterichs, das Hörgerät rechts wegen des Krückstocks nicht fangen, beide fallen runter, der Sauerstoffschlauch legt sich würgend um seinen Hals, er kann nicht sehen, wo die Hörgeräte liegen, es knirscht, weil er auf eins raufgetreten ist, der Krückstock entgleitet der zitternden Hand, und dann stößt er mit dem Kopf an die Lampe über dem Tisch, weil er mit der beschlagenen Brille nicht auch noch nach obern schauen kann. Blind, wie er ist, kickt er das andere Hörgerät unter die Zentralheizung, und sofort melden sich die Gleichgewichtsstörungen: Taumelnd wirft er den Stuhl um, auf dem er das Sauerstoffgerät abgestellt hatte. Zum Finale fällt die Brille unter den Tisch und ihm ein, dass er nicht die richtigen Unterhosen anhat. Das reicht! Er fühlt sich bestätigt: Der Mensch ist eine Fehlkonstruktion. Trotzdem: Das Zusammenspiel all seiner Hilfsaggregate mit den anderen pharmakologischen Errungenschaften wie diversen Pillen, Inhalatoren und dem Gymnastikband lässt ihn frohgemut seinem hundertfünfzigsten Geburtstag entgegentapern. Klar, die Synapsen arbeiten etwas langsamer als früher, aber das merkt ja kaum jemand. Die alte Frau an seiner Seite hat zum Glück nicht annähernd so schwere Gebrechen wie er, allerdings eins mehr als er: Ihn. Und sonst? Naja, Trump geht ihm am Arsch vorbei, und auch Scholzhabecklindnermerz&Co ist ihm keine einzige Blähung wert…

4. Nov. 2024


(c) 2025 Henning Venske