Methusalem-Komplott 2

(Dieser Text wurde geschrieben, bevor Joe Biden den Rückzug von seiner Kandidatur als Präsidentschaftskandidat der Demokraten bekannt gegeben hat. Ich denke, er kann so bleiben.)

Was man sehen konnte:  Man sieht einen alten Herrn die Gangway herbsteigen, Hände am Handlauf, wie es sich gehört. Tadellos gekleidet und frisiert. Scharf beobachtender, aber freundlicher Blick. Seine Gattin geht schräg hinter ihm. Ah, das ist die, die ihm das Aufschließen der Tür abnimmt, die ihm die mit Frühstücksei bekleckerte Krawatte austauscht, die ihm morgens immer die Zahnpasta auf die Bürste schmiert und für den Notfall auch eine frische Windel in der Handtasche hat. Die First Lady, die den Präsidenten angeblich aus der Kulisse steuert und für ihre öffentlich im Wahlkampf gezeigte Liebe mit der frauenfeindlichen Rolle einer Megäre abgestraft wird. „Gut gemacht, Joe“ sagt sie, wenn er dann die Bühne verlässt. Das gibt ihm Power. Das Paar begrüßt einige Staatsnasen in dunklen Anzügen, dann geht es zur Limousine, es setzt sich etwas unbeholfen hinein. Der Präsident winkt und fährt ab. Ja, er ist alt. Er will und kann vermutlich nicht mehr eigenhändig lange Nachrichten per Mobiltelefon verschicken, dafür zittern ihm die Finger nach kurzer Zeit zu sehr, aber er veranstaltet auch keine Autorennen mit anderen alten Leuten auf der National Mall in Washington D.C. oder sonstwo im öffentlichen Verkehr… Daraus ziehen wir aber keine falschen Schlüsse: „Die Altersweisheit gibt es nicht. Wenn man altert, wird man nicht weise, sondern nur vorsichtig,“ sagte der amerikanische Schriftsteller Hemingway.

Was man erfuhr: Vom mentalen und physischen Zustand des Präsidenten ist nicht mehr bekannt, als die offiziellen Erklärungen des Weißen Hauses. Demenz und Parkinson wurden überprüft und ausgeschlossen. Das Weiße Haus veröffentlichte einen Gesundheitscheck. Auf sechs Seiten wurden diverse kleine Gebrechen und Wehwehchen aufgelistet: Die üblichen Baustellen. Der Präsident habe Hüftbeschwerden, was seinen steifen Gang erklärt, und er leide an Atembeschwerden in der Nacht. Außerdem habe er die Refluxkrankheit, eine Verdauungsstörung. Der Präsident raucht nicht, trinkt keinen Alkohol und macht Sport. Er sei gesund, aktiv und somit ohne Einschränkungen in der Lage, das Amt auszufüllen, bescheinigten seine Ärzte. Seine physischen Ausfälle und Aussetzer sind für ein Alter über achtzig normal. Sie treffen den einen weniger und den anderen mehr. Gewiss, er redet zu schnell, er nuschelt ein bisschen, und er sabbert auch manchmal. Über des Präsidenten geistige Kräfte sagt das indes wenig aus. Im Gegenteil. Der Präsident habe schon immer ein Problem mit dem Stottern gehabt und sei noch nie ein guter Redner gewesen. Der mächtigste Mann der Welt, wie er oft genannt wird, ist nur alt, sonst nichts. Er trippelt also oder schlurft, je nach Tagesform, seinem Grab entgegen. Heißt das, dass seine kognitiven Möglichkeiten am Endes sind?  „Alter ist irrelevant, es sei denn, du bist eine Flasche Wein,“ sagte eine britische Schauspielerin…  

Was man weiß: Klarsicht und Verantwortung für Amerika und die Zukunft der freien Welt kann man ihm nicht absprechen. Das Wichtigste: Er hat seinen Kontrahenten mit seinem Wahlsieg 2020 aus dem Weißen Haus vertrieben. Der Präsident setzte sich für schärfere Waffengesetze ein. Er hat mit dem Green Deal die USA, wenn auch mit einem Anflug von Protektionismus, auf den Weg zur nichtfossilen Industrie gebracht. Er hat damit Amerikas Zukunftsfähigkeit als die wirtschaftliche Weltmacht neu begründet. Die Arbeitslosigkeit ist während seiner Präsidentschaft deutlich zurückgegangen. Tausende neue Arbeitsplätze geschaffen zu haben – das gehört zu den Dingen, die der Präsident selbst ganz oben auf seiner Leistungsbilanz sieht. Tatsächlich hat er große Gesetzespakete zur Erneuerung der Infrastruktur und für mehr Klimaschutz auf den Weg gebracht. Ökologische Maßnahmen also – er hat auch ein großes Pipelineprojekt gestoppt hat, das durch indianische Siedlungsgebiete führen sollte – und seine Migrationspolitik war auch nicht schlecht: Er hat die Auflösung von käfigartigen Kinderlagern in Nähe der mexikanischen Grenze verfügt, in denen minderjährige Flüchtlinge, getrennt von ihren Eltern, eingesperrt waren. Strategisch am wichtigsten waren seine Maßnahmen, um die Arbeitslosigkeit von ehemaligen Beschäftigten der Stahl- und Automobilindustrie zu lindern. Er hat hierfür eine Menge Geld ausgeschüttet.

Was man ihm vorwirft: Die hohen Preise und Mieten hat er nicht bremsen können. Seine teure Atompolitik stößt ebenfalls auf Kritik. Sein schwerster Fehler aber war, dass er gegen die Capitolsstürmer und ihren Einpeitscher nicht sofort energisch durchgegriffen hat. Stattdessen hat er auf Versöhnung und Einheit der Nation gemacht, und viel zu spät begann die Aufarbeitung durch die Gerichte. Dadurch hat er die Demokraten in den üblen Verdacht manövriert, die Justiz für ihren Wahlkampf zu instrumentalisieren. Sicher würde er wieder so vorgehen. Aber so sind sie halt, die tapferen Demokraten… Klar ist, dass dieser Präsident das kleinere Übel ist im Vergleich zum Kandidaten der Republikaner.

Was man lesen konnte: Im Zuge des Ukrainekriegs schlug einmal mitten in der Nacht eine Raketen in dem polnischen Grenzdorf Przewodów ein, und Selenskyj, Kiews stets alarmbereiter Nachtwächter, erklärte sofort: russischer Angriff auf NATO-Gebiet, jetzt muss der Westen eingreifen! Mehrere Nachrichtendienste gingen allerdings schnell von einer ukrainischen Flugabwehrrakete aus, die einen russischen Marschflugkörper abfangen sollte. Man klingelte den amerikanischen Präsidenten aus dem Bett, und der erklärte prompt, es habe sich um eine ukrainische Abwehrrakete gehandelt. Dann legte er sich wieder schlafen. Seine Einordnung des Geschehens wurde akzeptiert, Selenskyj schwieg. Wie der republikanische Kandidat in einer solchen Situation reagieren würde, weiß man nicht, weil er unberechenbar ist. Aber gemäß seiner Logik hätte er in dem Vorfall wohl einen Fehler der Russen erkannt, und wenn andere einen Fehler machen, muss er das unbedingt ausnutzen. Wahrscheinlich hätte er den russischen Präsidenten angerufen und einen Deal angeboten: was kriege ich dafür, dass ich über deinen Fehler gnädig hinwegsehe? 

Was man behauptet: Landauf-  landab wird über Altersgrenzen für öffentliche Ämter schwadroniert. Der Präsident wird mit einer immer weiter anschwellenden Debatte über seine geistige und körperliche Kondition konfrontiert. Wer konfrontiert ihn denn besonders mies? Gegenfrage: Wer nicht? Im Folgenden werden Formulierungen aufgelistet, die durch die Medien Verbreitung fanden: Er macht regelmäßig Schlagzeilen mit Gedächtnislücken, Versprechern und sogar Stürzen auf Treppen und Bühnen.“Er strahlt nicht mehr die Art von Führungskraft aus, die viele von einem Präsidenten der  Vereinigten Staaten erwarten. Die Leute haben einfach nicht das Gefühl, dass er die Dinge noch voll im Griff hat“. Er  legt wackelige Auftritte hin, wirkt häufig unkonzentriert, absolvierte einen fahrigen und kraftlosen Auftritt. Er befeuerte ohnehin bestehende Zweifel an seiner Eignung für das Amt, hat abgebaut. Macht keine gute Figur, verhaspelte sich, teilweise war es schwierig, ihm zu folgen, die Sätze endeten im Nirgendwo. Er starrte oft ins Leere und konnte auf Fragen nicht antworten. Er ist immer wieder mit peinlichen Versprechern und Gedächtnislücken aufgefallen. Offenbar altersbedingte Aussetzer. „Er sah nicht alt aus, er sah uralt aus“. Ein  Tattergreis! Sein Gegenkandidat wirkt deutlich agiler.  Aha – agil von lateinisch agilis „flink, beweglich“ – ist das ein Qualifikationsmerkmal für einen Präsidenten? Der peinliche Oberbefehlshaber der USA, der nur noch mäandert. Der Präsident ist ein Mann, der sich bei den Feierlichkeiten zum D-Day in Frankreich nach einem Stuhl umschaut, bevor er sich setzt – auch das machte man ihm zum Vorwurf… „Was soll Putin denken, wenn dieser Greis ihm mal gegenübersitzt?“ Wie kann die Parteiführung behaupten, der Präsident sei fit, wenn das Gegenteil für alle ersichtlich ist?“, hört man in Interviews, halten die uns für doof?“ Ja. Fitness ist nicht alles.

Was man daraus schließen kann: „Amerikaner wollen einen vitalen Präsidenten“, sagte ein demokratischer Aktivist, und die deutsche Illustrierte „Stern“ kommentierte:  „Ein guter Mann ist nicht auch ein guter Präsident“.Ok, sie wollen einen mit John Wayne-Fassade. Dumm wie Teppichfransen, aber mir eiserner Faust. Agil muss er sein, kurz entschlossen, stets bereit zur Attacke und bei Bedarf rücksichtslos bis brutal. Die Argumentation gegen den Präsidenten ist offen altersfeindlich und politisch völlig verblödet. Alter und Vitalität sollten bei der Wahl der mächtigsten Person der Welt kein Kriterium sein dürfen. 

(Nun aber, nachdem er mit einer jüngeren Frau als Präsidentschaftskandidatin der Demokraten konfrontiert wird, ist der „agile“ Republikaner selbst „der Alte“. Mit seiner unnachahmlichen Mixtur aus Verlogenheit und Rechthaberei wird er vermutlich von Alten- und Behindertenfeindlichkeit ungebremst auf Frauenfeindlichkeit umschalten. Das wird ärgerlich-unterhaltsam…) 

Was man verhindern muss: Dass ein unappetitlicher Strohkopf mit Feuermeldervisage und einer roten Brandstifterkappe, der ständig signalisiert, er werde der Nation den Roten Hahn aufs Dach setzen, der nächste US-Präsident wird – ein mieser Komödiant mit tiefgefrorenem Magerquark im Hirn, der Nationalheld spielen will und doch nur ein produktiver Verbreiter von aggressiven Unwahrheiten ist. Ja, er ist fitter als der Präsident, aber man sieht ihm den zu hohen Blutdruck an, und auch er fällt oft  durch sprachlichen Aussetzer auf. Sieht man ihn in Action, wird klar, dass es recht ungewiss ist, ob sich im Alter auch Altersweisheit einstellt: Dieser Mann ist nationalistisch, rassistisch, unsozial, gewalttätig, religiös-missionarisch und komplett bescheuert. Zur Reflexion ist er nicht im Stande. Ein Charakter ohne jedes Verantwortungsgefühl. Er hat schon lange aufgehört, zu lernen. Er ist Ende 70, wurzelt aber geistig in den Indianerkriegen. Er ist der Schwachmatiker, der den Anforderungen der modernen Politik nicht gewachsen ist. Einfuhrzölle sind sein wichtigstes politisches Handwerkszeug. Er hat keine Geschichtskenntnisse und kann deswegen keine Schlüsse für die Zukunft ziehen. Mit diesem Republikaner, der gar nicht weiß, was mit Res Publica gemeint ist, begibt sich Nordamerika auf den Marsch Richtung Faschismus 2.0

22. Juli 2024


Generation S

Der moderne Deutsche speichert seine Existenz gern in Ordnern ab. Das ist praktisch, und kenntnisreiche Leute nennen es pragmatisch. Im Ordner hat man Zugriff auf die Verlorene Generation, die Generation X, die Generation Y, die Generation Z, die Generation Golf und die Letzte Generation, der wir hiermit alles Gute wünschen. Vielleicht sollte sie sich verbünden mit der Generation der vor 1939 Geborenen. Die ist die unbedeutendste, weil sie nur noch wenige Mitglieder hat und deshalb im Wahlkampf unberücksichtigt bleiben kann. Immerhin hat sie den Spruch erfunden „Nie wieder Faschismus, nie wieder Krieg!“ Deswegen möchte ich anregen, in dieser Generation mal eine repräsentative Umfrage zu veranstalten:
Was halten Sie davon, dass Deutschland nun dem erhöhten Risiko ausgesetzt wird, zum Kriegsschauplatz zu werden? Die deutsche Politik ist dabei, den sogenannten Kalten Krieg ziemlich heftig anzuheizen durch die Stationierung neuer Langstreckenraketen – was sagen Sie dazu?

Die Antworten wären sicher interessant, denn diese Menschen können sich noch gut erinnern, wie es sich anfühlt, die Nacht in einem Bunker zu verbringen oder unter einer Treppe, über der das Haus eingestürzt ist, wie man rennt, wenn die ganze Straße brennt, was man auf der Flucht alles erleben kann, und wie unfassbar (zeitgemäßes Modewort) es aussieht, wenn die Nachbarsfamilie mit einer Phosphorbombe in Kontakt gekommen ist – usw. Und damals hat niemand auf der ganzen Welt auf Demos protestierend gefordert, die alliierten Bomberflotten hätten bei ihren Bombardements gefälligst Rücksicht zu nehmen auf die deutsche Zivilbevölkerung und die unschuldigen Nazikinder…

Die Generation der vor 1939 Geborenen musste gleich nach der Niederlage des Nazireiches auch die Generation Rosenzüchter ertragen. Die startete in Westdeutschland mit Lebensmittelmarken und einer Währungsreform. Aber diese Währungsreform, die angeblich allen Einwohnern die gleichen Chancen ermöglichte, hatte die Schere der sozialen Ungleichheit, die wenig später zwischen Arm und Reich klaffen sollte, schon maßgeschneidert im Tornister… Und die Kirchensteuer sollte auch bleiben…
Natürlich, das Grundgesetz der westdeutschen Bundesrepublik war ein ausgezeichnetes Gesetz. Aber mit entsprechenden Mehrheiten war es schnell auch mal geändert. Die Asylrechtsgesetze von damals sind beispielsweise heute null und nichtig.

Leute mit Gedächtnis erzählten von der nach dem 1. Weltkrieg gegründete Weimarer Republik: „Die Sozialdemokraten Friedrich Ebert und Philipp Scheidemann waren der Überzeugung, ohne das nationalistische autoritäre Bürgertum und ohne die kapitalistische Elite des Kaiserreiches könnten sie kein demokratisches System aufbauen…“ Nun, nach dem 2. Weltkrieg, machten die Christdemokraten den gleichen Fehler: Der Rosenzüchter aus Rhöndorf rettete dem braunen Pack den Arsch. Berührungsängste zu Leuten mit Nazivergangenheit hatte er nicht, er schätzte SS-Männer als pflichtbewusste und tapfere deutsche Ehrenmänner und hielt Willy, der im norwegischen Exil für den Widerstand gearbeitet hatte, für einen Vaterlandsverräter. Ferner gab dieser Rosen-Kanzler der Wehrmacht ein neues Heimatgefühl in der Bundeswehr und sperrte die Kommunisten ins Gefängnis. Das brachte den Aufschwung.

Nach der Generation Rosenzüchter besetzte die Generation 67-98 die belle Etage, und die Kräfte des modernen Lebens entwickelten sich: Technik, Industrie, Kapitalismus, Wissenschaft, Geschäftsgeist – das war eine materielle Macht, die das europäische Gleichgewicht oft genug erschütterte. Zwei Männer ragten allerdings positiv heraus aus dieser Generation: Willy wollte mehr Demokratie wagen, er hatte die Vision einer anderen, neuen Ostpolitik. Leider stand Kanzler Willy auch für Berufsverbote und Radikalenerlass, hatte aber den Mut, seinen Irrtum später einzugestehen. Und Gustav: Ein Agent für bürgerliches Engagement, Zivilcourage und Mitbestimmung sowie die Aussöhnung mit den Nachbarstaaten. Gustav, DER Bundespräsident, gehörte zu den Unterzeichnern des sogenannten „Stuttgarter Schuldbekenntnisses“… Aber sonst? Ex-Nazi-Kanzler, Ex-Nazi-Bundespräsidenten. Notstandsgesetze mit Polizeigewalt durchgeprügelt, Anti-Atomkraft-Schlachten, Startbahn-West-Kämpfe in Frankfurt – in „Bild“ kann man alles nachlesen. Für den Kanzler aus der Schnupftabakdose, diesen in jeder Rauchverbotszone privilegierten Raucher, der ohne Erfolg schon Leningrad belagert hatte, war die Staatsraison wesentlich wichtiger als das Grundgesetz, der tote Schleyer kann’s bezeugen. Kernkraftwerke waren sein Pläsier. Und das Attentat auf das Oktoberfest in München konnte seine politische Haltung auch nicht erschüttern: Das war das Verbrechen eines Einzeltäters. Staatsdoktrin: Von Rechts droht keine Gefahr, bekämpfen muss man vor allem die Linken, obwohl NPD und andere Neonazigruppen schon kräftig am Erstarken waren. Aber man musste erstmal dem Russen Paroli bieten und die Aufrüstung voran treiben. Herr Schmidt ließ Pershing – Raketen stationieren. Kalter Krieg, ganz heiß. Kündigte sich da schon der Klimawandel an? Im Herbst 1981 gingen etwa eineinhalb Millionen Menschen gegen die Aufrüstung auf die Straße. Damals waren die Grünen fast zwei Jahre alt, und sie schritten in vorderster Front der Friedensbewegung. Heute bezeichnet einer ihrer Chefs die Stationierung der amerikanischen Langstreckenwaffen als notwendig, und man fragt sich: Warum ist sein grüner Verein nicht längst in den Seeheimer Kreis der SPD eingetreten? Da könnte man dann eine Koalition der Nutzlosen mit den Überflüssigen schmieden und endlich den Klimawandel besiegen…

Der SPD-Kanzler mit der Helgoländer Lotsenmütze rollte den roten Teppich aus für Bramarbas Bräsig. Den bezeichnete man dann als den Kanzler der Einheit, obwohl er dafür kaum etwas getan hatte. Aber er kannte den Kreml-Chef und dessen Gattin. Begeisterte Gorbi – Gorbi-Rufe hörte man, als der Anschluss der DDR an die BRD vollzogen wurde. Als Gorbatschow dann viel später die Rückkehr der Krim zu Russland begrüßte und die Ost-Erweiterung der NATO in Interviews verurteilte, war Liebling Gorbi plötzlich ein Putin-Versteher, also ein ganz übler Bösewicht. Und als dieser Mann starb, der maßgebend die Wiedervereinigung ermöglicht hatte, schickte die deutsche Bundesregierung noch nicht einmal einen offiziellen Vertreter zu seiner Beerdigung. Die neue woke Generation wusste eben nicht, was sich gehört, und Kanzler Bramarbas Bräsig war 2022 auch schon tot, sonst hätte er der Bestattung vielleicht beigewohnt…

Die Wiedervereinigung verursachte eine gewaltige Umvolkung. Westliche Raffkes trafen auf östliche Wendehälse. Das Auto war der Fetisch der geeinten Nation, Mallorca wurde dem 4.Reich einverleibt.
Das Volk in den „neuen Ländern“ musste nicht mehr im HO anstehen, und aus Dankbarkeit wählt es nun zu großen Teilen seine Neo-Nazis. Die nächste Umvolkung kann eigentlich nur der Wiederanschluss Österreichs sein…

Am Ende des Jahrtausends kam eine neue Generation an die Fleischtöpfe. Sie startete siegreich mit der Zerschlagung Jugoslawiens. Etwas später versuchte man, die deutsche Freiheit am Hindukusch zu verteidigen, in Afghanistan, das war aber ein Desaster. Trotzdem: Westliche Werte, Menschlichkeit und Friedensliebe, durchdrungen von edlen Gefühlen, dominierten die Statements der Politik, humanistische Fiktionen wurden „in den Raum gestellt“ und bescherten den Armen und Obdachlosen immerhin Hartz 4. Die Schere der sozialen Ungleichheit klaffte ziemlich nah am Anschlag: Der Geldadel räumte ab, das Prekariat wurschtelte sich so durch, die Demokratie segnete ab. Korruption und Steuerbetrug hatten recht erfreuliche Umsätze. Krankenhäuser wurden privatisiert und mussten nicht mehr unbedingt heilen, sondern sich rechnen. Die Deutsche Bahn entließ rund 100 000 Beschäftigte, um den Service zu verbessern, und die zahllosen Verspätungen wurden damit ausgeglichen, dass die Züge gelegentlich etwas früher losfuhren. Das dürfen die – es steht im Kleingedruckten. Und Stuttgart 21 gab der DB mächtig Auftrieb, der Provinzbahnhof wird nun teurer als der Petersdom in Rom. Nebenbei wurde Die Deutsche Post noch zu DHL umgewandelt – seitdem kommt es vor, dass auf dem Postamt Briefmarken ausverkauft sind…

(Für Leute, denen dieser Text zu lang ist: An dieser Stelle als Wohlfühlkomponente bitte The Rolling Stones auflegen: The Under Assistent West Coast Promo Man)

Die Bildungspolitik produzierte in den Sprach- und Literaturwissenschaften, in der Pädagogik, den Geschichtswissenschaften, der Ethnologie sowie in Kunst-, Theater- und Musikwissenschaft geisteswissenschaftliche Hohlräume von nie gesehenen Ausmaßen. Immerhin, eine Physikerin wurde Frau Kanzlerin. Flüchtlinge wurden aufgenommen und versorgt, aber bald war das Land völlig überfüllt. Pegida – „Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes“ – eine Islam- und fremdenfeindliche, völkische, rassistische und rechtsextreme Organisation, verstopfte Gehirne und Straßen. Quedlinburg demonstrierte maulend: Dort wohnten 5 Syrer! Wenn in einer Kleinstadt mal ein Flüchtling zu viel war, wurde er von den Eingeborenen kurzerhand tot geschlagen. Brennende Asylantenheime hatten Hochkonjunktur, der nationalsozialistischer Untergrund – NSU – veranstaltete ungestört eine 10-jährige Mordserie, weil die Staatsschutzbehörden in die andere Richtung schauten…

Die EU musste helfen: Fortan ließ Europa die Flüchtlinge im Mittelmeer ersaufen. Die EU-Kommissionschefin, old school im pinkfarbenen Hosenanzug, bearbeitet wie eine Staubsaugervertreterin den außereuropäischen Mittelmeerraum – in der Handtasche: Honigsüße Komplimente und reichlich EU-Milliarden. Es geht darum, die totalitären Machthaber zu überreden, den gemeinen Job zu übernehmen, und wenn’s gar nicht anders geht, die Flüchtlinge eben ohne Wasser in der Wüste auszusetzen.

Weil alles immer teurer wurde, versuchte man auch immer wieder, die Kulturpolitik einzusparen. So erblühte die Musicalindustrie. Außerdem feierte man Festivals und andere geile Events. Allerdings hat die Bayerische Staatsregierung beschlossen, das Kiffen auf Volksfesten und in Biergärten wegen der Kinder zu verbieten. Koma-Saufen ist aber Gottseidank weiterhin erlaubt. Es sei an dieser Stelle angemerkt: Wenigstens hat die Hansestadt HH mit Carsten Brosda einen herausragenden Kultursenator, der die Freiheit der Künste sichern will, bei dem aber Projekte mit antisemitischen, rassistischen und anderen menschenfeindlichen Inhalten keine Chance erhalten…

Wir wollen voller Dankbarkeit auch erwähnen: In Deutschland herrscht seit bald 80 Jahren Friede, oder besser: Auf deutschem Boden wurde kein Krieg geführt, außer dem obligatorischen Kalten… Aber um nun wenigstens ein bisschen kriegslüsterne Stimmung zu entfachen und die Hoffnung, von deutschem Boden könne doch noch mal ein Krieg ausgehen, wenn auch nur ein ganz kurzer, ein Blitzkrieg gewissermaßen, wurde die Kapelle im Turm der Potsdamer Garnisonkirche wiedereröffnet. In der Garnisonkirche wurde im März 1933 der Pakt von Faschisten und Konservativen öffentlich besiegelt. Potsdam ist heute wieder ein Pilgerziel für Reaktionäre, und erst kürzlich gründete eine kleine Männergruppe hier einen preußischen Traditionsverein. Der wird sich gewiss freuen:

In Deutschland werden „Tomahawk“ stationiert – diese Monster haben ein Strahltriebwerk und können in geringer Höhe bis zum Ural fliegen, sie können auch nuklear bewaffnet werden, haben Navigationsfähigkeiten und eine hohe Zielgenauigkeit und können recht potente Sprengköpfe transportieren, allemal wirkungsvoller als die der Hiroshima-Bombe. Außerdem stellt man uns noch Boden-Luft Raketen vom Typ SM-6 mit einer Reichweite von mehreren Tausend Kilometern vor die Tür sowie eine Hyperschallwaffe mit mehr als fünffacher Schallgeschwindigkeit. Die Dinger lassen nur arg wenig Reaktionszeit für die Abwehr… Das haben die USA und Deutschland schon 2021 vertraglich vereinbart, ohne laut darüber zu reden. Der Kanzler, der Vergesslichkeit zugibt, obwohl er in Wirklichkeit nichts, aber auch gar nichts vergisst, Olaf der vermeintlich Vergessliche erklärte, dass die Stationierung eine „sehr gute Entscheidung“ und lange vorbereitet worden sei. Eine politische oder sogar öffentliche Debatte gab es nicht. Ich denke, der Kanzler, dieser umtriebige Strippenzieher, wollte ein Rollback verhindern, nur ja keine neue Friedensbewegung wie damals – er meinte wohl, im Schatten des Ukrainekrieges könne er die Bevölkerung vor vollendete Tatsachen stellen… Dass es wegen dieser Stationierungs-Entscheidung bislang keinen Aufstand gegeben hat, lässt uns ahnen, wie weit sich die Kriegsstimmung in Deutschland schon durchgesetzt hat. Man betrachte nur den SA-Gedächtnishaarschnitt vieler wehrfähiger deutscher Jungmänner…

Frage man also mal die Generation der vor 1939 Geborenen. Ich prognostiziere, deren Angehörige werden sagen: „Ein bedrohter Atomstaat wie Russland könnte sich beizeiten zu einem Erstschlag provoziert fühlen. Und dann kriegen wir, wie von den USA gewollt und durch Dokumente belegt, Deutschland als Schlachtfeld der Vorwärtsverteidigung der USA. Das ist eine derbe Sauerei! Außerdem eine Demütigung der deutschen Souveränität. Ich denke, durch die Geheimdienstveröffentlichung (hahaha) eines geplanten Attentats auf den Rheinmetallobergockel soll der ganze Schweinkram, der da so passiert, unter der Decke gehalten werden. Das nenne ich „Vorrrsehung!“


Die Leistungsbilanz dieser Generation, die in den 50er und 60er Jahren in den Wohlstand hineingeboren worden ist, und deren Angehörige sich zur Zeit in politischen und wirtschaftlichen Machtpositionen befinden, ist niederschmetternd. Sie lässt fast jede Möglichkeit aus, die AfD-Neonazis daran zu hindern, auch an die Fleischtöpfe zu gelangen. Und die öffentlich-rechtlichen Medien leisten dem System kräftig Schützenhilfe. Das Erste wird von der Quote geleitet, Das Zweite von der CDU. Manchmal auch umgekehrt. Mit beiden sieht man eher schlecht.

Wie kann man diese Generation benennen? Generation Ego? Generation Opportunismus? Generation Heuchler? Generation Dumm? Generation Inkompetenz? Passt alles. Ich nenne sie: Generation S. Generation Scheiße. Vorletzte Generation: Übernehmen Sie! Ordnen Sie im Rahmen Ihrer Möglichkeiten das Land zwischen 1 und 0.

14. Juli 2024


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