AUS !

Die Bundestagsfraktion der CDU/CSU hat am 14. März einen eigenen Gesetzentwurf „zur Sicherung bezahlbarer Stromversorgung” vorgelegt. Darin wird „das bisherige Enddatum für den Leistungsbetrieb von Isar 2, Neckarwestheim 2 und Emsland auf den 31. Dezember 2024 verschoben“. Das sollte man aber nicht allzu ernst nehmen, denn, so heißt es weiter, „der Deutsche Bundestag entscheidet bis spätestens zum 30. September 2024 über eine weitere Verlängerung der Befristung“. Und dann immer weiter ad infinitum? Nein, natürlich nicht, denn das ändert ja „nichts an der grundsätzlichen Entscheidung zur Beendigung der friedlichen Nutzung der Kernenergie in Deutschland“. Nur der friedlichen Nutzung? Vermutlich. Unfreiwillige und verräterische Komik war schon immer eine der großen Stärken dieser Partei…
Von den Erkenntnissen, die die deutsche Politik nach dem GAU von Fukushima gewonnen hat, ist in der Atom-Lobby jedenfalls nichts mehr vorhanden – Merz hat Merkel komplett abgeräumt. Laut CDU-Gesetz sollen die drei Kraftwerke ohne Periodische Sicherheitsüberprüfung (PSÜ) weiterlaufen, diese PSÜ könne man ja bis zum 31.12. d.J. nachholen. Bedenken haben die Antragsteller – Friedrich Merz, Alexander Dobrindt und Fraktion – keine. Ihre Behauptung, alle drei Anlagen verfügten über eine „robuste und international führende Sicherheitsarchitektur”, präsentiert sich allerdings absolut faktenfrei. Ob an der gepriesenen Konstruktion Stahlrohre rosten, Ventile klemmen oder Schweißnähte Risse aufweisen, interessiert sie nicht. Genauso wenig wie die festgelegten Reststrom-Mengen: Das CDU-Gesetz will die bereits getroffenen Ausgleichsregelungen mit den Betreibern ausdrücklich nicht antasten. Aber: Für nicht genutzte Reststrommengen sind die Energiekonzerne ja längst entschädigt worden. Das heißt: Diese Milliarden müssten sie eigentlich zurückzahlen, wenn sie ihre Meiler nun doch länger betreiben. Doch die Union ist spendabel – die Konzerne sollen das Geschenk behalten dürfen. Solche umsichtig bedachten Details legen nahe, dass Sachbearbeiter aus Energieunternehmen direkt an der Abfassung des Gesetzes-Textes beteiligt waren. CDU/CSU begründen ihre Initiative mit den „großen Herausforderungen”, vor denen die Sicherheit der Energieversorgung stehe – der kommende Winter wird vermutlich eiskalt! Danach drohen weitere Winter, Jahr für Jahr! Diese so energisch ums Menschheitswohl besorgten Leute, immer darum bemüht, Ängste im Land zu schüren, haben den Klimawandel offenbar nicht verstanden. Irgendjemand muss ihnen mal sagen, dass heiße Sommer und anhaltende Trockenheit auch ihre Probleme sind…
Jens Spahn präsentierte den Gesetzentwurf seiner Fraktion im Bundestag. „Atomkraft ist Klimakraft”, rief der stellvertretende CDU-Vorsitzende angestrengt in das spärliche besetzte Plenum, während seine hartgesottenen Parlamentskollegen gelangweilt auf ihre Smartphones starrten. In diesen Reihen ist das Interesse am Klima traditionell und wegen des offenkundigen Bildungsnotstandes recht überschaubar. Sinkende Wasserstände in den Flüssen trugen im letzten Jahr zu Drosselungen und Abschaltungen französischer AKWs bei, die bei steigenden Wassertemperaturen nicht mehr ausreichend gekühlt werden konnten. (Mit 31 % sei die Atomkraft am Wasserkonsum in Frankreich beteiligt, nur die Landwirtschaft verbrauche mehr, berichtete Der Spiegel in Ausgabe 12/2023) Mit dieser Verschwendung des wichtigsten Rohstoffs des Planeten durch Erwärmung will man also das Klima schonen?
Man kann nur hoffen, dass sich Umweltministerin Steffi Lemke (Grüne) durchsetzt und der Abschalt-Termin vom 15. April 2023 eingehalten wird. Man muss der Christenunion ja nicht unmittelbar nach Ostern noch ein Fest der Wiederauferstehung hinterher schmeißen. Sie und auch die neoliberalen FDP-Lallbacken sowie ihr Gefolge aus der Atomkraft-Ja bitte-Bewegung werden hiermit aufgefordert, den folgenden Fragebogen zu beantworten:

  1. Der Atomausstieg kommt euch zu schnell. Welche Frist haltet ihr denn für angemessen – 100 Jahre?
  2. Und Kohle-Ausstieg: 99 Jahre?
  3. Die große Sicherheitsüberprüfung haben sich die Betreiber von Isar-2, Neckarwestheim-2 und Emsland schon vor 3 Jahren gespart. Ist es marktwirtschaftlich vertretbar, in Zukunft generell darauf zu verzichten?
  4. In unseren Reaktoren gibt es keine Risse wie in anderen Ländern. Wetten, dass doch?
  5. Was ist jetzt mit den Modular-Reaktoren für den Balkon? Kann man die bei euch online bestellen?
  6. Wir brauchen eigene Atomwaffen, schon weil die Ukraine welche von uns fordern wird. Kann man das technologieoffen hinkriegen?
  7. Welches Land kann uns als Vorbild bei der Atomenergie dienen? Es wird doch nicht der Iran sein?
  8. Uran aus Russland, scheißegal, so lange es kein Gas ist?
  9. Atommüll-Lager kann warten. Kommt Zeit, kommt Rat. Wieviel?
  10. Habt ihr Geldkoffer dabei oder findet die Übergabe in Brüssel statt?

(Dank an Detlef zum Winkel – ursprünglich Physiker, lebt in Frankfurt am Main und schreibt vornehmlich für die Berliner Wochenzeitung Jungle World. Betreut dort u.a. die Themen Atomenergie und Proliferation, aber leider auch Faschismus, weil es immer noch ein Thema ist.) Sein Artikel in voller Länge auf: https://bruchstuecke.info/2023/03/22/cdu-csu-das-letzte-aufbaeumen-der-nuklearisten/

28. März 23


Nirgends was Neues

Von 1914 bis 1918 konnten Bürger und Bürgerinnen des deutschen Kaiserreiches in ihren Zeitungen den täglich herausgegebenen „Tagesbericht“ zum Kriegsgeschehen lesen. Die Überschriften lauteten schlicht: „Westlicher Kriegsschauplatz: nichts Neues“, oder „Keine wesentlichen Ereignisse“, oder „Keine besonderen Ereignisse“, und das Freiburger „Tageblatt“ titelte als erste deutsche Zeitung: „Im Westen nichts Neues“. Diese angesichts der Kriegs-Massaker zynische Formel wurde schon bald auch in offiziellen Berichten benutzt – in den Bewegungen des Stellungskrieges gab es eben keine Neuigkeiten, nur eine Menge Tote.
1928 erschien der Antikriegsroman „Im Westen nichts Neues“ von Erich Maria Remarque. Obwohl von Erich Maria Remarque als „unpolitisch“ bezeichnet, gilt der Roman bis heute als einer der bedeutendsten der sogenannten Antikriegsliteratur. Ihm wurde die Ehre zuteil, zusammen mit den Schriften jüdisch-marxistischer Verfasser von der NS-Studentenschaft verbrannt zu werden. Aber nicht nur den Nazis stieß die pazifistische Botschaft des Buches sauer auf, sondern auch der SPD: Der Unterrichtsausschuss des Preußischen Landtages unter Ministerpräsident Otto Braun verfügte, das Buch sei aus allen Schulbibliotheken zu entfernen.
1930 erhielt der Antikriegsfilm „Im Westen nichts Neues“ zwei Oscars. Wegen seiner pazifistischen Grundhaltung und der Darstellung von hoffnungslosen deutschen Soldaten wurde er vor allem von rechten Kräften in Deutschland angefeindet.
1980 erhielt der Antikriegsfilm „Im Westen nichts Neues“ einen Golden Globe als beste Filmproduktion für das Fernsehen. Politisch war diese Produktion mitten im Rüstungswettlauf des Kalten Krieges kaum umstritten.
2023 erhielt das Antikriegsdrama „Im Westen nichts Neues“ insgesamt vier Oscars – mehr als jeder andere deutsche Film zuvor – das meldete am 13. März um 04:36 die Frankfurter Allgemeine Zeitung.
Die Formulierung „Antikriegsfilm“ für das vom Streamingdienst Netflix finanzierte Opus erschien der FAZ-Stil-Expertin Maria Wiesner wohl nicht korrekt, denn um 06:51 aktualisierte sie die Meldung: Vier goldene Trophäen konnten die Macher des deutschen Kriegsfilms entgegennehmen.
Ja, was denn nun – Antikriegsfilm, Antikriegsdrama, Antikriegsroman oder doch Kriegsfilm?
Kommt darauf an, wie man den Stoff – „Trommelfeuer, Sperrfeuer, Gardinenfeuer, Minen, Gas, Tanks, Maschinengewehre, Handgranaten – Worte, Worte, aber sie umfassen das Grauen der Welt“ (Remarque) – betrachtet: skeptisch-ablehnend oder heroisch-begeistert.
Adolf Hitler zum Beispiel hat zweifellos ähnliche Erfahrungen an den Fronten des ersten Weltkrieges gemacht wie Erich Maria Remarque. Beide wurden verwundet und mit einem eisernen Kreuz dekoriert. Der eine entwickelte sich nach dem Krieg zum Verbrecher, zum Mörder von Millionen, zum Führer und größten Feldherrn aller Zeiten (Gröfaz), der andere wurde zu einem weltberühmten Autor und zur weithin gehörten Stimme des Pazifismus. Und jeder der beiden beanspruchte für sich, aus den Kriegserlebnissen die richtigen Lehren gezogen zu haben.
Kriegsverbrecher Hitler war selbstverständlich kein Freund von Erich Maria Remarque. Hitler war ein Fan des Schriftstellers Ernst Jünger. Der hatte auch im Ersten Weltkrieg gekämpft und war ebenso verwundet und dekoriert worden. Hitler hat Jünger offenbar mit großer Zustimmung gelesen, wie ein Brief vom 27. Mai 1926 belegt: „Sehr geehrter Herr Jünger! Ihre Schriften habe ich alle gelesen. In ihnen lernte ich einen der wenigen starken Gestalter des Fronterlebnisses schätzen …“ Ernst Jünger schildert in seinem Werk „In Stahlgewittern“, das auf seinen Kriegstagebüchern beruht, die Kampfhandlungen aus der Perspektive eines jungen Kriegsfreiwilligen, der sich zum erfahrenen Stoßtruppführer entwickelt. Ihm ist der Krieg ein schicksalhaftes Geschehen, dem die Menschen wie einer Naturgewalt (Gewitter!) ausgeliefert sind. Anspruchsvollen Literaturästheten, die sich am liebsten Landserhefte reinziehen, ist Kamerad Ernst Jüngers Werk ein steter Quell von Mannestugend und soldatischem Nationalismus: „Irgendwie drängt sich auch dem ganz einfachen Gemüt die Ahnung auf, dass sein Leben in einen ewigen Kreislauf geschaltet, und dass der Tod des einzelnen gar kein so bedeutungsvolles Ereignis ist“, schreibt Ernst Jünger.
Demgegenüber Remarque: Er prangert den Unsinn des gegenseitigen Tötens an, er stellt die Notwendigkeit des Krieges infrage, er salutiert nicht vor schneidigen Kriegern, er untersucht vielmehr, warum Menschen sich derartige Grausamkeiten antun. Er schreibt: „Vielleicht ist nur deshalb immer wieder Krieg, weil der eine nie ganz empfinden kann, was der andere leidet“, und – als besondere Ohrfeige für diejenigen, die ihre zwangsrekrutierten Truppen vom sicheren Schreibtisch aus in Marsch setzen: „Ich dachte immer, jeder Mensch sei gegen den Krieg, bis ich herausfand, dass es welche gibt, die dafür sind, besonders die, die nicht hingehen müssen.“
Wie werden Buch und Film „Im Westen nichts Neues“ heute aufgenommen?
Das Magazin „Der Spiegel“ stellt fest, das Buch „Im Westen nichts Neues“ wirke in Zeiten des russischen Angriffs auf die Ukraine aktueller denn je. Dieser Komparativ – was für ein dummes Geschwätz! Als ob es nicht zu allen Kriegszeiten ganz genauso aktuell gewirkt hat…
N-TV teilte Ähnliches mit: „Obwohl sich diese Geschichte um einen Konflikt dreht, der mittlerweile über 100 Jahre zurückliegt, erscheint sie vor dem Hintergrund des Ukraine-Kriegs aktueller denn je. Ein Angriffskrieg, der der sich verteidigenden Ukraine aufgezwungen wurde und aus dem es derzeit auch nur einen militärischen Ausweg zu geben scheint“. Bei soviel irritierendem „Schein“ fällt auf, dass es anscheinend nur einen militärischen Ausweg gibt, wenn es sich nicht sogar um mehrere scheinbare Auswege handelt…
Man kann sich schon vorstellen, dass es für die Propagandisten von Rüstung, Waffenlieferungen, Sanktionen und Feindbildern in Politik und Medien eine bittere Pille ist, dass ausgerechnet „in diesen Zeiten“ ein Antikriegsfilm Preise abräumt und den Pazifismus wieder verstärkt ins Gespräch bringt. Und sie müssen es ja wohl zum Kotzen finden, dass das Deutschland der Drückeberger, Feiglinge, Russland-Versteher, Kriegsdienstverweigerer, Ostermarschierer und Bundeswehr-Kaputtsparer, dass all diese kriegsverdrossenen deutschen Lumpenpazifisten international immer noch ein besseres Image haben als die Verfechter einer neuen deutschen Kriegsbereitschaft. Filmisch gesehen, jedenfalls.
Ob der Film allerdings ein Publikumserfolg wird, bleibt abzuwarten – ich wage mal die Prognose, dass er in der Ukraine kein großer Kassenerfolg sein wird. Kriegsherr Putin, fernab vom Schuss in Moskau, wird ihn sich vermutlich nicht ansehen, und wenn er denn deutsche Belletristik lesen sollte, gehört er gewiss nicht zu den Anhängern Remarques, sondern zu denen Jüngers, was an seinem gewalttätigen Verhalten leicht zu erkennen ist.
Aber dass der ehemalige ukrainische Botschafter in Deutschland und Vize-Außenminister der Ukraine, der durchgeknallte Herr Melnyk, an Wagenknecht und Schwarzer twittert „Hallo ihr beiden Putinschen Handlanger:Innen…Das Blut von ukrainischen Opfern vom Vernichtungskrieg wird ewig an euren Händen kleben“ – das ist ein derart grotesker Blödsinn, dass er weder Remarque noch Jünger zuzuordnen ist.
Offenbar ist dieser Herr Melnyk der Meinung, die Friedensforderungen sind den Forderungen nach Verteidigung der Ukraine keinesfalls gleichzusetzen. Und ganz in diesem Sinn treibt Annalena Baerbock, Feministin an der Spitze der Deutschen Lebensrettungsgesellschaft, alle Pazifisten im Diesseits und auch Erich Maria Remarque, seit 1970 im Jenseits vereint mit seiner Geliebten Marlene Dietrich und seiner Ehefrau Paulette Goddard, zur Verzweiflung mit ihrer Kriegspolitik: „Unsere Waffenlieferungen helfen Menschenleben zu retten: Eine menschenrechtsgeleitete Außenpolitik muss sich fragen, wie wir durch weitere Lieferungen Leben retten.“ Ich möchte Sie fragen, Frau Baerbock: Geben Sie mir recht, wenn ich behaupte, eine Kapitulation der Ukraine gleich zu Beginn des russischen Angriffs hätte -zigtausend Bürgerinnen und Bürgern das Leben gerettet? Oder sind Sie tatsächlich der Meinung, die Ukraine braucht deutsche Waffen in erster Linie, um den Menschen des Landes das Leben zu retten, und erst in zweiter Linie, um ihre nationale Unabhängigkeit, die so häufig mit Freiheit verwechselt wird, zu sichern? Legt Ihre Politik nicht nahe, dass das Leben vieler von Ihnen so gern beschworener Kinder lange nicht so wichtig ist wie die Verteidigung eines Staatswesens, das okkupiert ist von einer korrupten Verwaltung, antidemokratischen Oligarchen, rechtsradikalen Nationalisten und westlichen Geschäftsinteressen? Und rechtfertigt die angebliche Unabhängigkeit eines solchen Staatsapparates, überhaupt irgendeines Staatsapparates, so viele Tote?
Ach ja – diese Fragen sorgen allgemein für Verstimmung. Trotzdem – der letzte Satz des Antikriegsromans „Im Westen nichts Neues“ lässt sich leicht ins Heute übersetzen, und dann gilt er auch für den ukrainischen und für den russischen Wehrdienstleistenden:
„Er fiel im März 2023, an einem Tage, der so ruhig und still war an der ganzen Front, dass der Heeresbericht sich nur auf den Satz beschränkte, aus Bachmut sei nichts Neues zu melden.“

17. März 23


OPAS Lamento

(Beitrag für „Lesen ohne Atomstrom“ am 6.3.23 in Alma Hoppes Lustspielhaus Hamburg)

Wir fahren schwarz. Ich erkläre meiner Enkelin: Mit dem Auto in die Stadt zu fahren ist Quatsch. Erstens findet man keinen Parkplatz. Und Wenn man doch einen findet, kostet er zu viel. Das nennt man Wegelagerei. Zweitens ist der Benzinpreis zu hoch. Das ist Wucher. Und drittens: Mit den Öffentlichen Verkehrsmitteln zu fahren ist auch Quatsch – von Bramfeld zum Hauptbahnhof brauchst du eine Stunde, und dann ist  es auch noch teurer ist als mit dem Auto. Das nennt man Verkehrspolitik. 

Dann ist Schwarzfahren sowas wie sparen? fragt sie.

Na klar – es rentiert sich. Und wenn die Verkehrsbetriebe die Kontrolleure abschaffen, könnten sie sogar die Fahrpreise senken…

Fahr doch mit dem Fahrrad, Opa, sagt sie. 

Kommt nicht in Frage! Es gibt drei Menschengruppen, die ich aus tiefster Seele verachte: Kabarettisten mit esoterischem Basiswissen, fanatische Religionslehrer und Radfahrer. Und in diesem Fall gendere ich nicht, weil mein Hass geschlechtsunabhängig ist. 

Das glaube ich jetzt nicht, sagt meine Enkelin. 

Ich hasse Fahrradfahren! 

Das ist jetzt aber echt am Zeitgeist vorbei, Opa.

Überhaupt nicht! So ein Fahrrad produziert wegen des Bremsenabriebs im Durchschnitt zwei bis vier Milligramm Feinstaub pro Kilometer – das ist mehr als aus dem Auspuff eines modernen Diesels kommt. 

Das ist mal wieder was, das weißt nur du ganz allein, oder?

Ja! Radfahrer sind echt die Pest. 

Es sei denn, Du bist einer. 

Ich werde von denen bedroht! Jeden Tag mehrmals! Siehst du den Radfahrer da drüben in den schwarzen Klamotten ohne Licht? Hast du den gesehen? – Siehste – ich auch nicht…  Meine liebsten Radfahrer sind Frauen, die im prall gefüllten Rucksack ihre Einkäufe nach Hause fahren, und im Kindersitz auf dem Gepäckträger transportieren sie außerdem ihr Kindergartenkind durch die Gegend – der Zwerg verzieht gepeinigt das Gesicht, weil der Rucksack ihm jede Sicht nimmt und ihm jedesmal, wenn Mami bremst, auf die Nase haut.

Manche Kinder sitzen auch in so’m kleinen Anhänger hinten am Fahrrad.

Na bravo, da können sie ja bei Gelegenheit mal an einem Auspuff lutschen. Es gibt Radfahrer, die schlagen mein Auto mit der Faust auf die Motorhaube, nur, weil er ihnen im Weg steht – während sich die Oma mit ihrem Rollator auf den Rücksitz quält. Unglaublich!

Das stimmt. Aber Opa – diese E-Mobiles sind doch eine grandiose Erfindung für ältere Menschen!  

Pfff, Fahrrad mit Hilfsmotor –  kenn’  ich, hatten wir früher schon.Viel zu schnell, viel zu unsicher. Da bin ich dann meine eigene Knautschzone… Und damit du’s weißt: Roller fahre ich auch nicht. 

Besser is’ – sagt meine Enkelin. Sie hat schon einen feinen Sinn für Ironie. Und dann: Warum kaufst du uns eigentlich kein E-Auto?  

Aus Protest! Dann wird mein alter Benziner nach Afrika oder Osteuropa verkauft und verpestet von dort aus das Klima. Außerdem ist die Herstellung von Batterien sehr umweltschädlich. Und das  Betanken mit Strom kann auch bald niemand mehr bezahlen. Ich schweige verbittert. 

Opa?

Ja?

Würdest Du Dich auf die Straße setzen und  deine Hände –

Auf gar keinen Fall!

Warum nicht?

Na, weil ich dann nicht mehr hochkomme.

Da würde die Polizei dir doch helfen!

Ach, das möchte ich nicht.

Verstehe. Opa? Kommst Du von hier aus allein zurecht?

Na klar. Wieso?

Ich geh jetzt zur Demo. Klimawandel und so. Komm doch mit!

Och nö, ich glaube nicht, dass mir da jemand noch was Neues erzählen kann.

Trotzdem Opa – beim Klima geht es um die Wurst!

Ich weiß. Deswegen tendiert mein Fleischkonsum schon lange gegen Null. Und ich weiß auch: Ein fahrradfahrender Fleischfresser ist mindestens genauso klimaschädlich wie ein autofahrender Vegetarier. 

Ach Opa… Pass auf dich auf. Tschühüs!

Ja, tschüs mein Schatz – viel Spaß! – Hm. Ich denke, angesichts des Desasters, in das unser Lebensstil führt, ist es richtig, den Alltag zu stören, um massiven Druck auf die Regierungen auszuüben. Jede Aktion des zivilen Ungehorsams ist Notwehr, und deswegen: Glückwunsch! Die Bildzeitung hat schon Schaum vor der großen Schnauze…Als Angehöriger der drittletzten Generation möchte ich der letzten Generation sagen: Nur Mut, Leute! Ihr stört zu Recht! Lasst Euch nicht beirren, auch wenn eine Gottesfrau wie Margot Käßmann jungen Leuten „eine furchtbar traurige Verzagtheit“ unterstellt.Hört nicht auf das substanzlose Gerede von Politikern und Politikerinnen, die Euch als „Klima-Kriminelle“ bezeichnen und die „volle Härte des Rechtsstaates“ anmahnen. Die glauben ernsthaft, sie könnten mit heißer juristischer Luft das Wetter beeinflussen.Hört nicht auf autoritäre Volksvertreter, die vom Staat „klare Kante und entschiedenes Vorgehen gegen diese Unruhestifter“ fordern. Die Leute, die euch durch die Androhung von „Vorbeugehaft, Aufenthaltsverboten und Bußgeldern“  einschüchtern wollen und „konsequente Strafen“ für Euch verlangen, das sind dieselben, die sich rasend empören über das Vorgehen des Staates gegen die Protestbewegung, die im Iran für ihre Menschenrechte demonstriert. Hört nicht auf das dumme Geschrei der Geschwindigkeitsanbeter, die „Freie Fahrt für freie Bürger“ fordern und Euch Erpressung vorwerfen, wenn Ihr mit Straßenblockaden  „Tempo 100“ auf der Autobahn durchsetzen wollt. Hört nicht auf das entrüstete Geschimpfe der Flugpassagiere, wenn Ihr eine Landebahn blockiert – das sind die, von denen man immer wieder hört „ich fliege ganz ganz wenig, aber ein Mal im Jahr in den Urlaub, das muss sein“.Hört nicht auf die, die euch Klima-RAF nennen – das sind dieselben anständigen Bürger, die meistens zu egoistisch oder zu blöde sind, sich  bei Fahrbahnverengungen per Reißverschluss einzufädeln oder unfähig, auf der Autobahn eine Rettungsgasse zu bilden. Und hört auch nicht auf die, die sich echauffieren über Kartoffelbrei oder Tomatensauce auf den Ohren von Van Gogh – am lautesten protestieren ohnehin Leute, die so gut wie nie ins Museum gehen. (Naja, vielleicht könnt Ihr Kunstwerke wirklich unbeschadet lassen – Künstler stehen doch sowieso schon auf Eurer Seite…)Aber dass Ihr das Denkmal für das Grundgesetz in Berlin mit schwarzer Farbe vollgeschmiert habt, das war echt übel! Allerdings lange nicht so übel wie das, was die Abgeordneten selbst in den letzten Jahrzehnten mit dem Grundgesetz gemacht haben – wenn ich nur an das Schleifen unseres Asylrechts denke…

Wie meistens – die Pointe kommt am Schluss: Der deutsche Verfassungsschutz-Präsident gab zum Thema „Letzte Generation“ zu Protokoll, Extremismus sei, wenn der Staat, die Gesellschaft und die freiheitlich demokratische Grundordnung infrage gestellt werden – und, sagt er, „genau das tun die jungen Leute ja eigentlich nicht“. Er verwies darauf, dass die Klima-Aktivisten der „Letzten Generation“ ein Handeln der Regierung fordern. „Also anders kann man gar nicht ausdrücken, wie sehr man dieses System respektiert, wenn man eben die Funktionsträger zum Handeln auffordert,“ sagte er: Touché !

Ich denke ja nicht, wenn ich mich so umsehe in unserem Land, früher war alles besser. Das nun wirklich nicht. Schon bald nach dem zweiten Weltkrieg, in den 50er-Jahren, prägten Fettwanst und Riesenarsch das deutsche Straßenbild. Die Bürgerinnen und Bürger saßen unter der Tütenlampe im Cocktailsessel am Nierentisch, die Wampe wurde im Nyltesthemd oder der Perlonbluse luftdicht abgeriegelt, der deutsche Lieblingswein war lieblich und hieß Liebfrauenmilch, und das, was da 10 Jahre zuvor, in Hiroshima, passiert war, nunja, wer weiß, was diese Japaner noch alles angerichtet hätten, wenn unsere amerikanischen Freunde sie nicht rechtzeitig gestoppt hätten…Damals entfaltete sich langsam das Plastikzeitalter: Kindersandalen aus Kunstleder mit Porogummi-Laufsohle, Azella-Gardinen, Kaffeetassen aus Hochdruck-Polyethylen. Leider hat das meiste Zeug in greller Sonne heftig gestunken, leider bekam man vom Sitzen auf einem plastikbezogenen Sessel einen feuchten Klebearsch, aber: Das war modern. Die Designer hießen Schaufensterdekorateure, und wenn sie eine Auslage neu gestalteten, klebten sie das ganze Schaufenster mit Packpapier oder alten Zeitungen ab, damit sich vorbei flanierende Passanten nicht am Anblick nackter Schaufensterpuppen aufgeilen konnten. Dabei war das Wort „aufgeilen“ noch gar nicht erfunden.Die blonde Lilly mit dem Pferdeschwanz aus der Bild-Zeitung (einem von Anfang an pornografischen Spießerblatt für das bescheidene Amüsement zwischendurch), Lilly wurde zum Idol und zur Vorstufe von Barbie. Die Barbiepuppe, ein monströses Schönheitsideal: platinfarbene Haare, als wäre ihre Chemotherapie schiefgegangen, stacheldrahtspitze Brüste, deretwegen die Puppe immer gleich vornüberkippte, eine Bulimie-Taille und dürre Stelzenbeine, wie geschaffen für Osteoporose – jahrzehntelang haben fortschrittliche Mütter vergeblich versucht, ihren Töchtern diese Art von Weiblichkeitswahn auszutreiben. Erwachsene Frauen hingegen waren das vorgeschriebene Füllmaterial für die Produkte der Miederwaren-Industrie: Es gab Korseletts, Halb- und Vollmieder, Büsten- und Hüfthalter sowie hochtaillierte Gummischlüpfer mit Rückenverschnürung, verstellbarem Seitenverschluss, doppeltem Hakenband, mit Hakenleistenverschluss, mit Schaumstoff-Einlage, Drahtbügelversteifung und Stahleinlage in der Magenpartie… Sowas mussten die Frauen morgens anziehen, und unsereins durfte es bei guter Führung abends wieder ausziehen, vielleicht… Gehirn bei Frauen galt als genauso überflüssig wie Brustwarzen bei Männern. Ein Mann trug Anzug mit Hut – zur Fortbewegung bevorzugte er Kreppsohlen und Weißwandreifen – und ein junger Mann hätte nicht mal im Traum in Erwägung gezogen, den Beruf eines Kindergärtners oder eines Altenpflegers zu ergreifen…Es gab noch keine Fotoapparate, mit denen man telefonieren konnte, und keine Telefone, mit denen man fotografieren konnte. Und Computer – das Wort hätte man damals für einen Imperativ gehalten, gerichtet an einen Truthahn. „Komm, Puter!“ Niemand hatte einen Instagram-Account oder ähnliches und mehrere tausend „Follower“ – wenn einem der Sinn nach Kommunikation stand, musste man sich mit den zwei bis drei Freunden oder Freundinnen, die man hatte (wenn’s überhaupt so viele waren), persönlich treffen und ein Gespräch führen von Angesicht zu Angesicht – das war manchmal – ätzend. Industrieabwässer, CO2 und Stickoxide konnten noch niemanden schrecken, Pollenflug-Triefnasen und andere allergische Reaktionen wurden als sehr seltsame Charakterschwäche betrachtetet: Die Ökologie war noch nicht erfunden, und niemand stellte wegen der Gelbbauchunke ernsthaft seinen Lebensstil infrage, und der DGB klebte Plakate: Samstag gehört Vati mir! Der Gipfel von Innovation und technischem Fortschritt war der Moment, als 1960 der VW-Käfer vom Winker auf den Blinker umgerüstet wurde… Dann startete das deutsche Fernsehen, schleppend, mit einem einzigen Programm, dafür brauchte man noch nicht mal einen Flachbildschirm. Anfangs hat man vor dem Fernseher auf der Lauer gelegen, weil man dachte, da passiert gleich was, irgendwas ganz Wichtiges. Man dachte wirklich, es geht um was, aber im Lauf zahlloser Fernseh-Serien merkte man: Nö, es geht eigentlich um nix. Der Filmregisseur Jean-Luc Godard bemerkte dazu: „Das Fernsehen hat immer nur Vergessen produziert.“  Trotzdem – ohne ein Fernsehgerät im Zimmer wüsste man heute gar nicht, wo man hingucken soll, wenn man sich gesetzt hat… Nun wartet die Menschheit darauf, dass eines Nachts auch die Träume von Werbeblöcken unterbrochen werden… Und schon fragen sich die ersten jungen Leute: Dieser Sonnenuntergang da am Horizont – ist der echt? Oder wie haben die das gemacht? Das ist ja eine mega krasse Animation… Tja, ich beherrsche die Sprache der Jungen…!

Trotzdem muss ich alles tun, um Krampfadern, Arthrose, die drohende Tüddeligkeit, den Zahnersatz, den unweigerlichen Gehör- und Sehverlust sowie den allgemeinen Tatterich in den Griff zu kriegen. Aber ich habe immer noch Wünsche: Ich möchte wenigstens 75% des durchschnittlichen Einkommens der Erben-Generation überwiesen bekommen, ich würde mir gern regelmäßig einen neuen E-Rollator kaufen, ich habe es satt, kein Geld für Luxus zu haben, und ich wäre gerne wieder sexy… Die Welt muss endlich lernen: Es ist nicht Omas und Opas einzige Daseinsberechtigung, auf die Kinder ihrer Kinder aufzupassen. Und deshalb rufe ich allen Jungen zu: Auch ihr seid nichts anderes als Alte im Wartestand!

Ok, die Vorwürfe, die die Jungen den Alten über die “geklaute Zukunft der Jugend” machen, nehme ich zur Kenntnis. Opfer und Täter stehen demnach fest: Schuld tragen die, die zwischen 1930 und 1964 geboren wurden – ich bin Jahrgang 39 –  denn wir sind die Generation mit den höchsten CO2-Emissionen, die jahrzehntelang alle Warnungen der Wissenschaft in Bezug auf den Klimawandel ignoriert hat. Wir sind Schuld an Atom- und Kohlekraftwerken, Benzinschleudern, Dieselfahrzeugen und allen anderen Klima- und Umweltsünden.
Die absolut Unschuldigen und Leidtragenden sind die, die nach 1980 geboren wurden. Folgerichtig lautet ein beliebter Demo-Spruch: „Im Westen wie im Osten – ihr lebt auf unsere Kosten!“  Ich muss es wohl ertragen, wenn ein hoher Prozentsatz der Jungen glaubt, dass es den Alten völlig egal ist, wenn sie Deutschland in einem Zustand hinterlassen, in dem kein Schwein mehr leben möchte.
Aber: Wir alten Leute waren ja nicht immer nur böse. In unserer Jugend kauften wir Milch mit einer Milchkanne, wir hatten eine Einkaufstasche, die wir nachhaltig, also immer wieder benutzten, und nichts darin war in Plastik verpackt. Die Elektro- oder Haushaltsgeräte, die wir uns vor 60 Jahren anschafften, waren meist so teuer, dass es eine Investition für Jahrzehnte war, und auf die erste Italienreise haben wir lange sparen müssen… Unsere erste Echtholz – Schrankwand überlebte ein Dutzend Umzüge, und der Plattenspieler funktioniert heute noch. Wir erinnern uns ganz gut, wie es in der vordigitalen Welt zuging – mit einem Festnetzanschluss pro Familie, wenn überhaupt… 

Verglichen damit ist unsere U 40 heute eine Generation des Überflusses, die schon als Klimasünder geboren wurde. Und bei allem Respekt vor den mutigen jungen Leuten, die mit Uhu, Sekundenkleber oder wie der Kleister auch immer heißt, mit dem sie den Staat herausfordern – es ist  allgemein IN, sich per Online-Shopping neu einzukleiden, Sneaker dutzendweise im Regal zu stapeln und die Produkte von Kinderarbeit in Billigläden aufzuspüren. Unsere U 40 kauft tolle Multifunktions- Elektro-Geräte mit Sollbruchstellen, die nicht nur in der Anschaffung, sondern auch in ihrer Fertigung so billig sind, dass sie nach wenigen Jahren auf Elektro-Schrotthalden landen, wo sie die Umwelt endgültig versauen. Was mal länger als zwei Jahre hält, wird ausgetauscht, weil ein aktueller Verkaufshit eine minimal bessere Auflösung oder eine höhere Speicherkapazität besitzt. Und den meisten Internet-Nutzern ist es völlig gleichgültig, dass jedes Download, jedes Upgrade und jeder Twitter-Post eine gravierende Klimasünde ist, dass Google und Social Media einen riesigen Energieverbrauch verursachen. Und eins ist auch klar: Nicht nur wir Alten haben die Wale mit Joghurtbechern, Plastiktüten und Giftmüll gefüttert! 

Was also tun?
Wenn Shopping und Fitness, Fun und Entertainment als Maxime des eigenen Handelns und höchste Werte gesetzt werden und eine Lösung der Umwelt- und Klima-Probleme wirklich nur als marktwirtschaftliche Wachstumsinitiative vorstellbar ist, empfehle ich als effektivste Art, den Klimawandel zu bekämpfen, die Geburtenrate auf Null festzusetzen. Dann kann man Kindergärten abreißen, Schulen und Universitäten einsparen, alle Fahrradwege renaturieren und die Herstellung von Zahnspangen verbieten. Nachwuchs vermeiden und das ganze Land auf Zero stellen – das ist das Gebot der Stunde. Und wenn sich das nicht durchsetzen lässt? Dann – alles platt machen und  nochmal von vorn anfangen. Soll heißen – Krieg führen! 

In der Ukraine einsteigen, wieder mal gegen die Russen antreten.… Krieg sorgt erfahrungsgemäß nach seiner Beendigung für Aufschwung und frische Energien. Klar, nach dem letzten Mal sah es in Hamburg und München, in Kiel und Hannover genauso aus wie heute im türkisch-syrischen Erdbebengebiet, aber da müssen wir dann durch… 

Nur – wie soll ich das meiner geliebten Enkelin erklären…? Dieser entsetzte Blick, wenn ich ihr das erzähle, diesen Blick möchte ich nicht sehen… Ich kann mir schon vorstellen, wie sie dann vor mir steht und fragt: 

Aber Opa – ist denn heute alles schlecht? Ist denn gar nichts besser geworden?

Gottseidank kann ich ihr dann antworten: Doch doch – zum Beispiel sieht man heutzutage viel mehr Männer einen Kinderwagen schieben und viel mehr Papis mit ihren Kindern auf den Spielplätzen rumtoben als in meiner Kindheit. Die Emanzipation der Männer ist offenbar ein gutes Stück vorangekommen…

Enkelin und Opa

7. März 23


(c) 2024 Henning Venske