Zeitenwende 22/23

Aus der Zeit gefallen – so kommt man sich vor, und als Teil einer vom Aussterben bedrohten Art, zumal zu hören ist, die Vogelscheuchen sterben auch aus, obwohl man das nicht recht glauben mag – zu viele begegnen einem noch in den Fußgängerzonen – aber auch schon früh morgens im Badezimmer, beim Zähneputzen, glotzen sie aus dem Spiegel… Mir stellt sich die Zeit in erster Linie als Gedächtnis-Müllhalde dar – eine Abfalldeponie im Hirn: Und nichts schützt mich davor, dass mir ganz plötzlich dort endgelagerte Fakten und Personen einfallen, zum Beispiel der SPD-Chef mit dem prae-emanzipatorischen Namen Ollenhauer. Oder die sensationelle Claudia Nolte, einst eine blütenweiße Rüschenbluse im Kabinett Kohl. Und der Pfarrer Hintze, der unter dem Namen Fliege im Marienhof wegen Mutter Beimer und ihrer roten Socken immer Heulkrämpfe bekam und in der Lindenstraße als Maschendrahtzaun endete – Sie erinnern sich? – der hatte eine Ausstrahlung wie ein vom Grill gefallenes Nitratwürstchen…Keine Ahnung, warum der mir jetzt einfällt… Das war jedenfalls zu einer Zeit, als ich noch davon überzeugt war, am Anfang schuf Gott Marika Rökk und Johannes Heesters. Das geschah zu der Zeit, da Heinrich Lübke Landpfleger in Peenemünde war.
Wie lange das alles her ist…
Die Zeit beschreibt die Abfolge von Ereignissen. Sie stellt sich geometrisch als eine Gerade dar, verläuft also eindimensional. Sie hat eine unumkehrbare Richtung und kann weder wenden noch gewendet werden. Das weiß auch unsere Regierung: Die Zeit ist relativ, aber so relativ, dass sie nach rechts oder links, oben oder unten abbiegt, nun auch wieder nicht. Eine Zeitumkehr, zurück zu Hellebarde oder Pfeil + Bogen, geht gar nicht – man wäre schon froh, wenn man wenigstens den Puma ans Laufen kriegen würde… Deswegen versucht der dynamische Olaf, unser Kanzler und Einsteins Stellvertreter auf Erden, mit Hilfe der physikalischen Prinzipien der Thermodynamik die Richtung der Zeit als Zunahme der Entropie, d. h. der Unordnung in einem abgeschlossenen System, neu zu bestimmen, und so seine Theorie von der Zeitenwende ins Übersinnliche zu wenden.
Da dürfen wir auf eine Vertrauen weckende Formel gespannt sein…
Ich jedenfalls erwarte für den Frühling der frisch gewendeten Zeit, dass dann die Stromzähler rückwärts laufen, dass im Fernsehen alle Ziehungen der Lottozahlen seit 1965 wiederholt werden, dass sich die Eingangstüren aller Banken und Sparkassen öffnen und Safes und Schließfächer die Passanten zum Zugreifen einladen. Wär doch mal was Neues, passend zum Zeitgeist…
Keine Zweifel lässt die Regierung schon heute aufkommen, dass die Ökonomie, also auch unsere Volkswirtschaft, die Zeit als Wertgegenstand betrachtet – die Älteren erinnern sich gewiss noch an jene Epoche der Stechuhr, die vermutlich schon bald ihre Renaissance im Bereich Home-Office erleben wird… Zeit und Wirtschaft – da fällt mir ein:
Vor 20 Jahren, im Januar 2003, wurde das Pfand für Getränkedosen und Einwegflaschen mit Bier, Mineralwasser und kohlensäurehaltigen Erfrischungsgetränken erhoben. Seitdem leiste ich mir jeden Tag ein Sechserpack. Die Sorte ist nicht so wichtig, Hauptsache, man kriegt zu jedem Bier eine Dose dazu, gratis. Ich bin zum leidenschaftlichen Dosensammler geworden und habe rund 37 800 Stück in meinem Keller. Demnächst bringe ich meine stetig wachsende Sammlung zur nächsten Annahmestelle, und die dann 38 000 Dosen verwandeln sich in 9500 € Bargeld. Saufen lohnt sich! Und je mehr man säuft, desto weniger macht es einem aus, sich an den Dosenpfandmissionar Trittin zu erinnern…
Was einem allerdings die Laune versaut: Auf der Suche nach der gewendeten Zeit stößt man unweigerlich auf die Lebensmittelpreise. An jedem Regal macht uns die Zeitenwende klar, dass bestimmte Beträge in kürzester Zeit immer in eine bestimmte Richtung – also in die Höhe – steigen. An der Fleischtheke kann man feixende Moslems beobachten – deren Prophet hat schon vor 1500 Jahren vom teuren Schweinebraten abgeraten, und die Hindus grinsen angesichts der Preise für Filetsteak und Kalbsgulasch.. Und wissen Sie, was ich aus sicherer Quelle erfahren habe? Im Tofu werden neuerdings auch Fischmehlbeimengungen verarbeitet. Die Zeit, ob gewendet oder nicht, ist aus den Fugen…
Balancierend auf der Schnittstelle von Vergangenheit und Zukunft hat der kühne Zeitgenosse Olaf sich eine Erkenntnis aus dem Wehrunterricht für die 9. und 10. Klasse in der DDR zunutze gemacht und daraus eine zeitlich angepasste Neujahrs-Botschaft formuliert, um weltweit Durchhaltewillen und Siegeszuversicht zu stärken:
Liebe Mitbürger*innen, die Kraft der Pulvergase eines Geschosses von 5 Kilogramm Masse, das ein zwei Meter langes Rohr mit einer Geschwindigkeit von 800mxs hoch minus 1 verlässt, ist nur selten während der gesamten Beschleunigungszeit konstant, so dass es nach meiner Einschätzung immer zur Unzeit einschlägt, was einer von Krieg betroffenen Zivilbevölkerung im Rahmen ihres Raum-Zeit-Kontinuums relativ wenig Chancen einräumt, den nächsten Bunker zu erreichen. Beeilt Euch also, wenn Ihr mit der neuen Zeit Schritt halten wollt. Und erinnert Euch, was Barry Ryan 1971 sang:
Zeit macht nur vor dem Teufel Halt
Denn er wird niemals alt
Die Hölle wird nicht kalt
Zeit macht nur vor dem Teufel Halt
Heute ist schon beinah‘ morgen
Die Zeit, alle Zeit, Ewigkeit

30. Dezember 22


Überfüttert

Das ist das Schöne in dieser Jahreszeit: Die Sichtbarkeit der deutschen Innerlichkeit. Das Kachelofen-Feeling. Die Harmonie in der Familie. Wir haben unsere Freude an gierig leuchtenden Kinderaugen. Gemütlichkeit, ein urdeutsches Wort. Und Draußen:
Christus und der Einzelhandel, gemeinsam sind wir stark.
Immer, wenn ich an Weihnachten denke, weil mir nie weihnachtlicher zumute ist, als wenn es so richtig intensiv weihnachtet, also nicht nur an den Weihnachtstagen selbst, sondern quer durch die Vorweihnachtszeit während der ganzen Weihnachtszeit, in der sich die Weihnachtsfeiern überschlagen, und wo ich so einen Weihnachtsengel zu Hause habe, der den ganzen Tag Weihnachtsgedichte aufsagt und Weihnachtslieder singt und dabei aussieht wie eine fette Weihnachtsgans, die für mich als Weihnachtsüberraschung im Weihnachtszimmer ihre Weihnachtsglocken läutet und mich anflötet „Oh du lieber Weihnachtsmann – fröhliche Weihnachten“, was heißen soll, dass nur ein Weihnachts-Game- und Fun-Event ein echtes Power-Weihnachten ist, und es nun auch an der Zeit ist, die Weihnachtslichter auf dem Weihnachtsbaum mit dem Weihnachtsstern darauf anzuzünden und die in Weihnachtspapier gehüllten Weihnachtsgeschenke auszupacken, um zu überprüfen, ob sich die Weihnachtsvorbereitungen und die Weihnachtseinkäufe überhaupt gelohnt haben, damit sich zum Weihnachtsfest auch eine Weihnachtsfreude einstellt, die einem über den ganzen Weihnachtstrubel hinweghilft, obwohl sogar Weihnachtshasser, der Weihnachtstradition folgend, zugeben müssen, dass diese Weihnachtsbräuche viel Schönes haben, vor allem wegen des Weihnachtsgeldes, was ja ohne das Weihnachtsgeschäft überhaupt keinen Spaß machen würde, besonders den Herstellern von Weihnachtskarten, die man für die Weihnachtswünsche braucht, und den Verkäufern von Weihnachtsbraten oder Weihnachtsgebäck, die den Gläubigen, mal abgesehen von der Weihnachtsillumination in den Straßen, die Weihnachtsstimmung schenken, weil ohne festliches Weihnachtsessen die Weihnachtsgeschichte im Radio gar nicht stattfinden könnte, und auch das Weihnachtsmärchen wäre ohne Weihnachtskekse kein echtes Weihnachtsprogramm im Weihnachtsfernsehen, sondern anstrengend wie ein Weihnachtsoratorium, und man müsste dann ersatzweise den ganzen Weihnachtsabend Weihnachtstelefonate führen oder verspätete Weihnachtspäckchen packen oder einen Weihnachtsgottesdienst besuchen und während der Weihnachtsgebete goldene Weihnachtsnüsse knacken, vielleicht sogar eine Weihnachtsansprache anhören, was noch schlimmer ist, als im Weihnachtsverkehr steckenzubleiben, und das alles geschieht bei ganz miserablem Weihnachtswetter während der Weihnachtsferien, in denen Männer prinzipiell die Weihnachtsunterhosen und die Weihnachtskrawatte tragen, manche bei Gelegenheit sogar ein lamettageschmücktes Weihnachtskondom, sie strahlen Weihnachtsseligkeit aus, und sie benutzen das Weihnachtsklopapier, obwohl sie auf diese ganze Weihnachtsscheiße schimpfen und sie der Weihnachtsstress völlig fertig macht, vor allem, wenn ihnen bewusst wird, dass in dieser Zeit des Kirchenjahres in Deutschland etwa 200 Milliarden Weihnachts-Kalorien verzehrt werden, mit denen man in 2000 Einfamilienhäusern siebzehn Monate lang das Weihnachts-Badewasser heizen könnte – das beschert ihnen dann wirklich ein Gefühl wie Weihnachten.

20. Dezember 22


Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen im Nachhinein

Heute beschäftigen wir uns mal mit Großverbrechen, begangen in der Absicht, auf direkte oder indirekte Weise „eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören“. Laut UN-Konvention von 1948 ist solch ein Verbrechen ein Völkermord, ein Genozid. Nur Nazis, Geschichtsrevisionisten und verblendete Vollidioten werden bestreiten, dass der von Deutschen an den europäischen Juden begangene Holocaust der schwerstwiegende uns bekannte Völkermord in der Geschichte der Menschheit ist.
Aber da gibt’s ja noch mehr, weniger gravierend, aber schlimm genug.
Nachdem der Deutsche Bundestag vor einigen Jahren festgestellt hat, dass die Massaker an Armeniern im Osmanischen Reich 1915/16 geplant und gezielt waren und somit nach der UN-Definition als Völkermord gelten, könnte das Hohe Haus ja nun auch andere, vergleichbare Taten als Völkermord definieren – beispielsweise die Blockade Leningrads durch die Nazi-Wehrmacht; dort war der Tod der Millionenbevölkerung durch Aushungern klar beabsichtigt. Oder die Niederschlagung des Warschauer Aufstands – auch hier ist die genozidale Absicht nicht zu leugnen. Und den Völkermord deutscher Kolonialtruppen an den südwestafrikanischen Völkern der Herero und Nama hat der Bundestag bislang auch noch nicht anerkannt. Das alles wäre ja eine schöne Aufgabe für unsere Volksvertreter*innen, wenn sie unbedingt einem Regime das Etikett „Völkermord“ an den Frack heften wollen. Warum machen sie das nicht? Ach so, das wird teuer: Derlei Beschlüsse ziehen Entschädigungsforderungen nach sich… Na gut – wie wär’s denn dann, die Kopfabhacker des IS des Völkermords zu beschuldigen? Diese Religionsfanatiker haben schließlich etwa zehntausend Jesiden ermordet. Oder das Militär in Myanmar? Die Überlebenden der von den Vereinten Nationen als „am stärksten verfolgte Minderheit der Welt“ eingestuften Rohingya sind Zeugen für einen Völkermord… Und wenn’s denn unbedingt was Historisches sein soll: Warum werden nicht die Verbrechen der Europäer an den indigenen Völkern in ihren afrikanischen und amerikanischen Kolonialreichen thematisiert? Spanische Konquistadoren und portugiesische Eroberer taten sich mit monströsen Völkermorden hervor, Näheres kann man bei dem Jesuitenmissionar und Augenzeugen Las Casas nachlesen. Und auch die diversen Vernichtungskriege auf dem Gebiet der heutigen USA sind als Völkermorde zu definieren. Ein Beispiel von vielen: 1776 drohte der amerikanische Gründervater Thomas Jefferson den Irokesen mit vollständiger Auslöschung – er schrieb, falls sie die USA angreifen, „würden wir sie so lange mit einem Krieg verfolgen, so lange noch ein einziger von ihnen auf dem Angesicht der Erde weilt“. Und US-Oberbefehlshaber George Washington wies einen General an, „das Land soll nicht nur überrannt, sondern zerstört werden“. Die Soldaten ermordeten daraufhin gezielt indianische Zivilisten, und mit der Vernichtung aller Nahrungsvorräte, Nutztiere, Obstbaumplantagen, Gebrauchsgegenstände und Wohnhäuser verursachten der spätere US-Präsident sowie seine Offiziere die Auslöschung großer Teile des irokesischen Volkes – nach den Kriterien der UN-Genozidkonvention ein Völkermord. Der Deutsche Bundestag könnte also noch etliche Völkermord-Resolutionen beschließen, aber die Abgeordneten ergriffen Ende November 2022 die unsinnigste aller Möglichkeiten: Weil der ukrainische Präsident Selensky im Fernsehen regelmäßig und karlspreiswürdig eine Verurteilung Russlands wegen Völkermord verlangt, schmiedeten seine deutschen Follower in einer 45 Minuten – Hauruck-Debatte aus der Geschichte dringend benötigte Propaganda-Munition für den aktuellen Krieg: Das deutsche Parlament lieferte der Ukraine die Anerkennung der Hungersnot in der Ukraine von 1932 bis 1933 als Völkermord. In Stalins Sowjetunion gingen damals zwischen acht und neun Millionen Menschen am Hunger zugrunde – über 3,5 Millionen in der Ukraine, etwa drei Millionen in Russland, über 1,2 Millionen in Kasachstan. Der stalinistische Terror gegen „Kulaken und Volksfeinde“, der Millionen das Leben kostete, traf damals die Landbevölkerung auch in anderen Teilen der UdSSR, nicht nur in der Ukraine. Die Wortwahl „Holodomor“ für diese schreckliche Zeit ist beabsichtigt: Ehemalige ukrainische Nazikollaborateure, die sich nach 1945 trotz ihrer den Alliierten bekannten Nazivergangenheit über den Atlantik retten konnten, haben Ende der 1970er Jahre ihre Interpretation des „Holodomor“ entwickelt, als Antwort auf die US-Fernsehserie „Holocaust“. Damit wollten sie von Ihrer Verwicklung und Mitarbeit bei der Judenvernichtung in Osteuropa ablenken. Stepan Bandera, der heute in der Ukraine als Nationalheld verehrt wird, und seine faschistische OUN sind mitverantwortlich für die Ermordung von Juden, Polen und Russen. Die Dimension der Kollaboration belegt der Massenmord an den Kiewer Juden. Über Babyn Jar, einer Schlucht in der Nähe von Kiew, hing ein Transparent, auf dem in ukrainischer Sprache stand „Wir erfüllen den Willen des ukrainischen Volkes“. Dort erschossen 1941 zwei Bataillone ukrainischer Polizei, eine Militäreinheit der OUN sowie Einsatzgruppen des SD und der deutschen Wehrmacht 33.771 Menschen. Von den insgesamt 1500 Exekutoren waren 1200 Ukrainer und 300 Deutsche. Die Namensähnlichkeit Holodomor – Holocaust ist also kein Zufall. Man wollte durch die Unterstellung eines „sowjetischen Holocaust“ die Bedeutung des von Deutschland ins Werk gesetzten Völkermordes an den europäischen Juden relativieren, der „Holodomor“ wurde in die Welt gesetzt, um ukrainischen Kollaborateuren und Judenmördern Opferstatus zu verschaffen. Für die offizielle ukrainische Geschichtsschreibung stand von Anfang an fest, dass Stalin den Hunger bewusst eingesetzt hatte, um das ukrainische Volk auszurotten, was bei seriösen Historikern mittlerweile längst als widerlegt gilt, und sogar das Auswärtige Amt hatte noch 2019 davon abgeraten, den Hungerterror als Völkermord anzuerkennen. Aber nun, in der Petition von Ende November 2022, heißt es: „Aus heutiger Perspektive liegt eine historisch-politische Einordnung als Völkermord nahe“. Der Bundestag tut so, als habe er die Kompetenz einer Historikerkommission. Hat er aber nicht. Es ist nur anmaßend, wenn die Volksvertreter*innen behaupten, Putins Überfall auf die Ukraine habe eine „heutige Perspektive“ geschaffen und so für sich in Anspruch nehmen, juristische und historische Genauigkeit seien nicht von Belang für sie…
Die deutschen Volksvertreter*innen sollten sich klar machen: Putin ist nicht Stalin, und Hitler ist er auch nicht. Der Historikerstreit wurde 1968/69 ausgefochten, die Thesen des reaktionären Historikers Ernst Nolte, die Nazi-Verbrechen als „Antwort auf bolschewistische Vernichtungsdrohungen“ darzustellen, sind dank Habermas gescheitert, und die Singularität des Holocaust steht fest. Die Bundestags-Resolution zum „Holodomor“ ist eine antisemitische Unverschämtheit. Aber offenbar ist so ziemlich alles erlaubt, was die antirussische Stimmung im Land anheizt. Nur ja keine Kriegsmüdigkeit aufkommen lassen! Es geht nicht darum, dass der Frieden gelingt, sondern darum, mit allen Mitteln den Krieg zu gewinnen. Dazu sagte Ex-Kanzlerin Merkel: ,,Das Grauen verschwindet mit den Zeitzeugen. Aber es verschwindet auch der Versöhnungsgeist.“ Den kennen die nachgeborenen Politiker*innen gar nicht – die kennen nur den Korpsgeist und vielleicht noch den Himbeergeist, sind aber ansonsten von allen guten Geistern verlassen…
Im vergangenen Oktober ist das deutsche Strafgesetzbuch um den Paragraphen 130b erweitert worden, der „das öffentliche Billigen, Leugnen oder gröbliche Verharmlosen von Völkermord, Verbrechen gegen die Menschheit und Kriegsverbrechen“ unter Strafe stellt. Sicherheitshalber möchte ich deshalb abschließend feststellen: Ja, Russland ist der Aggressor aus dem Reich des Bösen, und die Ukraine ist das Land der Helden. Und nein, Grenzverschiebungen mit Gewalt werden auch von mir nicht akzeptiert.

16. Dezember 22


Betrachten wir’s mal von der albernen Seite

Manchmal denke ich, es wäre nicht das Schlechteste, die Deutschen stürben aus. („Stürben“ – allein schon dieser Konjunktiv rechtfertigt ein Aussterben.)
Angenommen, das deutsche Volk erlebte einen Ausbruch kollektiver Intelligenz – ich weiß, damit ist nicht zu rechnen, aber mal angenommen, das deutsche Volk gelangte (oder gelönge?) zu der Einsicht, erfolg-reicher könne es nun nicht mehr werden, und es sei am deutschesten, auf dem Höhepunkt der Evolution zu verschwinden, tja, dann sind wir alsbald ausgestorben wie der alemannische Beutelwolf, der friesische Pfeifhase oder die gemeine westfälische Sackratte, und Europa würde erleben, was Wolfgang Neuss schon vor Jahrzehnten gefordert hat: Eine gemeinsame Grenze von Frankreich und Polen… Na und? Würde der Welt etwas fehlen, so ganz ohne Deutsche? Man kann Aussterben ja durchaus auch als Erlösung empfinden, Erlösung aus unserer Unfähigkeit, mit Energie, Gesundheit, Finanzen, Klima, Einwanderung, Bildung, Transgender, Cyberattacken und Sabotage unserer kritischen Infrastruktur rational und glückbringend umzugehen, während sich die Fußballnation Deutschland gleichzeitig von kickenden Vaterlandsverrätern demütigen lassen muss…
Was würde denn der Welt ohne Deutsche fehlen? Die modernen deutschen Denker natürlich – Kubicki, Til Schweiger, Guido Maria Kretschmer, Steffen Henssler und dergl., außerdem selbstverständlich auch die Expertinnen für gesellschaftliche Events, Barbara Schöneberger, Heidi Klum, Claudia Roth, sowie Barbara Schöneberger und vor allem Barbara Schöneberger. Darauf für immer zu verzichten – das wird hart. Und ja, es ist traurig, wenn wir dann weg sind. Wir wohnen hier in Deutschland seit fünf Millionen Jahren. Erst kamen die Urmenschen von Afrika nach Europa. Hunderte und Tausende. Die hatten zunächst nicht mal eine Sprache. Die imitierten Tierlaute. Aber dann bekam jeder Stamm den passenden Dialekt zugewiesen, und so entstanden die Hessen, die Bayern, die Schwaben … Nur die Sachsen blieben bei den Tierlauten.
Wir Deutschen breiteten uns nicht nur in unserem Land aus, sondern auch in anderen Ländern. Denn schnell entwickelten wir Interesse an anderen Kulturen. Wir haben immer sehr gern fremde Länder betreten. Meistens im Gleichschritt. Bei uns sind sie auch alle einmarschiert – die Römer, die Hunnen, die Mongolen. Dschingis Khan hat in einer einzigen Nacht bei uns 32 Kinder gezeugt. Ein Vorgang, den man beim FC Bayern heute noch als Weihnachtsfeier kennt.
Ach, wir hatten so vieles, was andere Völker bis heute nicht haben. Wir hatten Antworten auf die größten Fragen der Menschheit. Gut, die Chinesen wissen, wie man Menschen mit Akupunktur heilt, die Amerikaner wissen, wie man Menschen zum Mars fliegt. Aber wir waren das einzige Volk der Erde, das wusste, warum ein Apfel sieben Prozent Mehrwertsteuer hat und Apfelsaft 19 Prozent.
Und deshalb, Völker der Welt, schaut auf dieses Land: Schon bald wird der Wind über Wiesen und Felder pfeifen und uns Sahara-Sand in die Augen treiben. Der Regen wird Sedimente von den Bergen in die Ebenen schwemmen und alles bedecken. Schichten über Schichten werden sich auf Deutschland schichten, und wenn in tausend Jahren Archäologen in Pullundern und mit Fusselbärten deutsche Reste ausgraben – was werden sie dann finden? Uns! Skelette in Jogginganzügen, den Joghurtbecher noch in der knochigen Faust oder die Gasrechnung zwischen den Zähnen, dann die Gebeine von deutschen Radfahrern, die Speichen noch zwischen den bleichen Rippen, und schließlich auch die Reste unserer Intellektuellen, die immer so schwierige Fragen stellten. Im 18. Jahrhundert Kant: „Was ist Moral?“, im 19. Jahrhundert Schopenhauer: „Was ist die Welt an sich?“, im 20. Jahrhundert Richard David Precht „Wer bin ich – und wenn ja, wie viele?“ und in der Jetztzeit schließlich Günther Jauch: „Rufen Sie jemanden an, oder nehmen Sie den Publikums-Joker?
Man wird finden, was von unseren Revolutionären Marx und Engels übrig blieb: Die Asche von Olaf Scholz.
Und damit, lieber Rest der Welt, kommen wir zu dem Thema, das euch sicherlich am meisten interessiert: Was erbe ich, was fällt für mich ab? Beruhigt Euch, Ihr Lieben, alles Wesentliche ist bereits festgelegt: Den Kölner Dom bekommen die Holländer. Die werden in ein paar Jahren froh sein für alles, was noch aus dem Wasser rausragt. Die Deutsche Bahn AG geht an die Chinesen. Wir können nicht verhindern, dass die irgendwann den Westen erobern – aber mit der Bahn kommen sie wenigstens einige Stunde später als erwartet. Die deutschen Call-Center bekommen die Taliban. Wenn die erstmal in einer stillgelegten Warteschleife fest hängen, werden sie sich freudig unserem Konsumzwang ergeben. Unsere katholische Kirche vererben wir dem Iran. Da können die Mullahs sich mal überlegen, ob sie nicht ständig hinter den Falschen her waren. Unsere Universitäten erhalten die Koreaner. Die können sie bei sich als Grundschulen weiter betreiben. Unsere Behörden kriegen die Thailänder als buddhistische Tempel. Damit sie auch weiter Orte der Meditation bleiben. Die deutsche Gemütlichkeit geht an die Schweden. Die kennen sie schon als „Flatrate – Saufen“, und den deutschen Humor erbt die Antarktis. Dort richtet er am wenigsten Schaden an.
Unsere politischen Visionen der letzten 30 Jahre haben wir aufgeschrieben. Die gehen an alle Völker. Auf dem Küchentisch im Reichstag liegt eine leere Din-A-4-Seite: Die könnt Ihr kopieren.
Unser Testament hinterlegen wir dort, wo Deutschland am deutschesten ist: Im Kyffhäuser oder auf der Loreley, im Media Markt oder bei Saturn, und zwar in einem Aktendeckel. Darin für die Ewigkeit festgehalten unsere letzten Worte: „Gottseidank! Wir haben’s geschafft: Endlich Sicherheit und Stabilität!“ Und das ist dann der Schluss vom Ende.

7. Dezember 22


(c) 2024 Henning Venske