Ein echter Fortschritt

Am Freitag, 26. Aug. 2022, meldete die FAZ (Frankfurter Allgemeine Zeitung):

„Als kulturelle Abkehr von der früheren Vormacht Russland benennt die ukrainische Hauptstadt Kiew 95 Straßen und Plätze um, deren Namen an Russland oder die Sowjetunion erinnerten. Das teilte Bürgermeister Vitali Klitschko mit. So sollen außer den deutschen kommunistischen Vordenkern Karl Marx und Friedrich Engels auch die russischen Schriftsteller Alexander Puschkin, Lew Tolstoi, Anton Tschechow, Iwan Turgenjew und Michail Lermontow aus dem Straßenbild verschwinden.“

Es erfüllt alle literarisch Interessierten mit Begeisterung, dass die Führung der Ukraine den Eintrag in diesem Blog „Kultura nix gutt“ (veröffentlicht 13.Mai 22) nun mit Leben erfüllt und in die Tat umsetzt. Frau Baerbock, Pumps-Model und Busenfreundin der Gebrüder Klitschko, sollte unbedingt zu den großen Umwidmungsfeierlichkeiten anreisen (auch wenn sie nie ein Werk der genannten Autoren gelesen hat). Vielleicht könnte sie bei der Gelegenheit die Georeferenz von Kiew den Gegebenheiten anpassen und einigen kulturschaffenden Russinnen die Ehre eigener Straßennamen prophylaktisch aberkennen – gewiss würden die Gräfin Rostoptschin sowie die Achmatova, die Zwetajewa und auch die Petrushevskaya derlei feministische Friedens-Anstrengungen gut heißen.

26. August 22


Die Wahnsinnigen

Als ob es nicht schon viel zu viele Opfer in der Zivilbevölkerung der Ukraine gegeben hätte… Die Russen werfen den Ukrainern vor, sich in Krankenhäusern und Schulen zu verschanzen und Patienten oder Schulkinder als Geiseln zu nehmen, die Ukrainer werfen den Russen vor, Atomkraftwerke als Schutzschilde zu benutzen, um unangreifbar zu sein. Vermutlich stimmt beides, und die Militärs beider Seiten riskieren nun auch noch die totale Vernichtung der Bevölkerung ganzer Landstriche:

Das Kernkraftwerk Saporischschja am Dnepr ist das leistungsstärkste Kernkraftwerk Europas. Die russische Armee hält es schon seit den ersten Tagen des russisch-ukrainischen Krieges besetzt. Am 1. August 2022 brachte die New York Times eine große Reportage über Nikopol – blickt man von Nikopol aus über den breiten Strom, der hier zu einem See aufgestaut ist, sind die Silhouetten der sechs Reaktoren des Atomkraftwerks und seine beiden Kühltürme gut zu erkennen. Der Bürgermeister von Nikopol sagte der New York Times, russisches Militär habe sich mit voller Absicht im Atomkraftwerk verschanzt, „damit sie nicht getroffen werden können“. Die Russen würden Raketen über den Fluss nach Nikopol und in andere Ziele schicken, und die Ukraine könne den Beschuss „mit ihren von Amerika erhaltenen fortschrittlichen Raketensystemen“ nicht erwidern, ohne zu riskieren, das Atomkraftwerk oder sein Atommülllager zu treffen.
 
Es ist naheliegend, dass eine US-amerikanische Zeitung nur die ukrainische Sicht der Dinge wiedergibt und nach der russischen gar nicht erst fragt. Gleichwohl lässt der Artikel erkennen, dass es unter den Einwohnern von Nikopol sehr unterschiedliche Meinungen gibt: Sie fürchten, wie die Zeitung einräumt, nicht nur die russischen Artillerie, sie sind auch in großer Sorge, dass die eigenen Leute ein Leck in das Atomkraftwerk schiessen könnten. Oder dass sie das Atommülllager treffen, errichtet vom US-Konzern Westinghouse und bestückt mit 167 großen Containern, die jeweils mit einer Betonummantelung versehen sind. Oder es könnte sich, noch gefährlicher, ein Geschoss in die kaum gesicherten Abklingbecken für verbrauchte Brennelemente verirren. Oder, was vielleicht am schlimmsten wäre: Wenn der Staudamm getroffen würde, könnte sich im worst case eine riesige Flutwelle stromabwärts über Cherson ergiessen, und das stromaufwärts gelegene Atomkraftwerk hätte keine Kühlung mehr…

Mittlerweile hat die oberste ukrainische Heeresleitung bekannt gegeben, ihre Truppen hätten die Brücke über den Staudamm siegreich beschossen. Also nah dran sind sie schon mal…

Es scheint demnach Vorsicht geboten. Wie vorsichtig zumindest die ukrainischen Patrioten mit Atomkraftwerken umgehen, beweist ein Videoclip, den das Verteidigungsministerium in Kiew Ende Juli 2022 ins Netz gestellt hat. Die offizielle Beschreibung lautet: „Eine Kamikaze-Drohne wurde eingesetzt, um die feindliche Stellung und deren Ausrüstung zu treffen, darunter Flugabwehrkanonen und BM-21 Grad-Fahrzeuge. Nach vorliegenden Informationen wurden bei dem Anschlag 3 Menschen getötet und 12 verletzt. Das Lager wurde durch ein Feuer zerstört, das lange Zeit nicht gelöscht werden konnte. Ruhm der Ukraine! Tod dem Feind! (Leiter der Abteilung für Nachrichtendienste des Verteidigungsministeriums der Ukraine)“

Das Video zeigt zunächst den Beschuss eines Fahrzeugs, das inmitten von Sprühanlagen postiert ist, die zur Kühlung des Atomkraftwerks Saporischschja gehören. Dabei handelt es sich nicht um die systemrelevanten primären und sekundären Kühlkreisläufe, sondern um eine spezielle periphere Kühleinrichtung, die man bei einigen Kraftwerken russischer Bauart findet. Und in der nächsten Sequenz des Clips nimmt die Drohne ein Zeltlager ins Visier, das die russischen Truppen auf dem Kraftwerksgelände direkt vor dem doppelt umzäunten Hochsicherheitsbereich errichtet haben. Nach den Bildern zu urteilen befand sich das Lager im nördlichen Bereich des Terrains, 200 bis 250 Meter vom nächstgelegenen Reaktor und ebenso weit entfernt von dem Trockenlager für Atommüll, das an der nordöstlichen Ecke der Anlage gelegen ist. Die Aufnahmen zeigen, wie sich eine Explosion zwischen den Zelten ereignet; anschließend sieht man viele Menschen davonlaufen und schließlich den Einsatz einer Feuerwehr, um den Brand zu löschen. Dass der Clip keine Fälschung ist, bestätigte das Portal Ukrinform, die Nationale Nachrichtenagentur der Ukraine, mit einer Meldung vom 23. Juli. Die mehrsprachige Nachrichtenagentur ergänzte, die Russen hätten 500 Soldaten auf dem Gelände des AKWs stationiert und im Untergeschoss eines Ausbildungszentrums ein Waffenlager eingerichtet.

Eine „Kamikaze“ Drohne also. Ein Selbstmord-Fluggerät nach japanischem Vorbild, erfunden und eingesetzt von durchgeknallten Nationalisten. Ohne Rücksicht auf Verluste programmiert und in Marsch gesetzt auf
das Gelände eines Atomkraftwerks. Offenkundig muss man im Atomzeitalter dem Militär jede Befehlsgewalt
absprechen und alles eigenständige Handeln verbieten – die Gefahr ist einfach zu groß, dass diese Leute denken, sie befänden sich in einem Videospiel… Dort sind sie aber nicht – das wurde recht deutlich, als es wenige Tage später erneut krachte im AKW: eine Hochspannungsleitung wurde beschädigt, sodass ein Reaktor in Notabschaltung ging und die Leistung eines anderen reduziert werden musste. Anscheinend gab es mehrere Granaten-Einschläge, die auch eine Sauerstoff/Stickstoff Anlag beschädigten. Prompt beschuldigten sich beide Seiten gegenseitig. Also:

Die Unzurechnungsfähigkeit eskaliert, und letztlich ist es wohl auch egal, wem Europa es zu verdanken hat, wenn Saporischschja den größten anzunehmenden Unfall meldet… Hauptsache, Herr Söder und Herr Merz ziehen rechtzeitig ihre weißen Schutzanzüge und vor allem ihre gelben Gummistiefel an – wir wollen ja nicht, dass ausgerechnet denen was passiert…
(Danke an Detlef zum Winkel, Physiker und Autor, für Geburtshilfe bei diesem Text)

17. August 22


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