Der Standort des Betrachters

Mir ist keine einzige anarchistische Theorie bekannt, in der brennende Autos eine Rolle spielen.
Und wären die Leute, die bei den G20- Unruhen 2017 in Hamburg die Geschäfte geplündert haben, Anarchistinnen und Anarchisten gewesen, hätten sie die Läden nicht zerstört, sondern beispielsweise in Genossenschaften übernommen, die Preise und Löhne angepasst und als ausbeutungsfreie Unternehmen geführt… Wenn in dieser G20-Sache damals etwas anarchistisch war, dann die Aktion der Leute, die sich hinterher auf den Straßen zum Aufräumen trafen: Gegenseitige Hilfe ist ein Prinzip des Anarchismus, blinde Zerstörungswut ist es nicht.
Was uns damals unter der Überschrift „Anarchie in der Schanze“ von den Medien erzählt wurde, findet heute angeblich in der Ukraine statt: Anarchie – und gemeint ist damit, Chaos, Desorganisation, Gewalt und Regierungslosigkeit – ohne Recht &Ordnung.
Also, nochmal für alle, die nicht wissen, wovon sie reden:
Im Anarchismus geht es sehr wohl um Ordnung, und zwar um eine Ordnung, die nicht auf Herrschaft, Ausbeutung, Konkurrenz und Egoismus basiert, sondern auf Gleichberechtigung, Vereinbarungen, Hilfe und Solidarität. Der Anarchismus ist eine Utopie, die Vision einer herrschaftsfreien Gesellschaft. Aber wenn man glaubt, dass Herrschaft von oben nach unten die einzig mögliche Ordnung ist, dann ist Anarchie natürlich Unordnung. Es versteht sich, dass die Umsetzbarkeit der anarchistischen Theorie angezweifelt wird. Und dabei wachsen die Zweifel logischerweise proportional mit dem Wohlstand…
Versuche, eine anarchistische Gesellschaft zu etablieren, gab es einige – im Gedächtnis geblieben ist – neben den Versuchen in Spanien und in Kronstadt – vor allem die Machnowschtschina in der Ukraine: Dort versammelte nach dem 1. Weltkrieg der von den Ideen Michail Bakunins und Peter Kropotkins beeinflusste Nestor Machno Bauern und Arbeiter in einer Gewerkschaftsorganisation, und er gründete eine schnell anwachsende Partisanenarmee aus freiwilligen Kämpfern. Machnos Bewegung vertrieb das vom Deutschen Kaiserreich gestützte Staatsoberhaupt der Ukraine, den General Pawlo Skoropadskyj und machte die bürgerlich-liberale Regierung bedeutungslos. Großgrundbesitzer und Industrielle wurden enteignet, und die befreiten Gebiete wurden in einem Netzwerk selbstverwalteter Kommunen zusammengefasst, in denen ein Rätesystem aufgebaut wurde. Die Räte waren neben der Versorgung und Verteilung der Güter unter der Bevölkerung auch zuständig für Transport, Industrie, Kriegführung und Kultur. Auch der Aufbau von Schulen, eine Alphabetisierungskampagne und die politische Aufklärung der Bauern und Partisanen gehörte zu ihren Aufgaben. Rede-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit wurden etabliert, die Pressezensur wurde aufgehoben, und staatliche Polizei und Gefängnisse wurden aufgelöst.
Dies alles geschah zwischen 1917 und 1922. Wie’s endete, wissen wir: Zuerst verhinderten die zarentreuen Militärverbände der „Weißen Armee“ viele Maßnahmen, und am Ende machte die Rote Armee der Bolschewiki alle anarchistischen Bestrebungen zunichte. Die Ukraine wurde Teil der Sowjetunion. Machno selbst verbrachte sein weiteres Leben im Exil. Er starb 1934 in einem Pariser Armenhospital an Tuberkulose und ist begraben auf dem Père Lachaise.
Der aktuelle Konflikt wiederholt in gewisser Weise diese Tragödie von vor 100 Jahren:
Der russische Präsident Wladimir Putin hat gesagt, Russen und Ukrainer seien Geschwister, aber die Ukrainer seien einer Gehirnwäsche unterzogen worden. Offenbar schickt der Kreml nun, dieser Argumentation folgend, gut informiertes und klar denkendes Militär in den Kampf gegen die armen, gehirngeschädigten Brüder und Schwestern.
Schade, dass wir nicht wissen, was Nestor Machno heute denken und tun würde – vielleicht: Die Ukraine ist eben eine Maus zwischen zwei großen Katzen. Deshalb fordern wir alle, die nicht gefühllos sind, auf, sich mit der ukrainischen Bevölkerung, aber nicht mit dem Staat zu solidarisieren…
Um etwas klüger zu werden, schlagen wir das deutsche Ober-Intelligenzblatt „Die Zeit“ auf. Darin enthalten ein umfangreicher, aber keinesfalls lesenswerter Artikel der Autorin Anna Sauerbrey mit der Überschrift: „Wladimir Putin – Der Anarchist“. Sie will der Leserschaft einreden, dass Putin dem Rest Europas die Anarchie aufzwingen will, dass er sich für die Anarchie als Weltzustand entschieden hat, dass er aber in seiner „autoritären Anarchie“ noch nicht ganz angekommen ist. Wenn man es geschafft hat, diesen Quatsch bis zum Ende durchzulesen, was nicht ganz leicht ist, bleibt nur eine Frage offen:
Wenn „Die Zeit“ den Präsidenten Putin als autoritären Anarchisten bezeichnet, darf der dann „Die Zeit“ einen Rastplatz für geistig eingeschränkte Journalistinnen nennen?

25. März 22


Bitte etwas unmenschlicher

Ich habe nicht gedacht, dass ich in meinem Leben nach dem Irrsinn des 2. Weltkriegs nochmal mit soviel menschlichem Elend konfrontiert werde. Ich komme immer mehr dahinter: Krieg, Massenmord und Massensterben, Verstümmelungen, Flucht, Hunger und Obdachlosigkeit – das alles ist nichts Unmenschliches, sondern etwas ganz normal Menschliches…
Ursächlich für die aktuelle Kriegssituation scheint mir auch zu sein, dass keine/r der Verantwortlichen in meinem Alter ist, dass keine/r Krieg am eigenen Leib erfahren hat. Die Herrschaften können sich doch gar nicht vorstellen, wie Krieg sich anfühlt und was er vor allem mit Kindern macht. Unsere Erde wird beherrscht von einer Politiker-Generation, die man nur als ahnungslos, infantil und indolent bezeichnen kann.
Für diese Politiker/innen ist Krieg offenkundig etwas Abstraktes, womit sie persönlich nie in Berührung kommen – Namen wie My Lay, Katar, Grozny, Belgrad, Bagdad, Kiew und Mariupol sind für das politische Personal zwar Synonyme für Kriegsverbrechen der Gegenseite, aber nicht tief eingeprägte Erinnerungen für Erlebtes und Erlittenes.
Ganz und gar menschlich ist offenbar auch die feindselige Propaganda beider Seiten: Da ist kaum jemand, der zur Vernunft mahnt, der Vorschläge zur Deeskalation macht, der die verbindende Kraft von Sport oder Kultur beschwört, der von Versöhnung spricht, oder der ganz einfach sagte: Nun kommt mal wieder runter, kriegt euch in den Griff, unsere hysterischen Anfälle bringen uns nicht weiter… Mäßigt mal euern Ton… Die Leute wollen doch eines Tages wieder miteinander auskommen, sich über Grenzen hinweg besuchen, Geschäfte miteinander machen, oder? Ich begreife es nicht…. Die einzige einigermaßen ernstzunehmende Stimme in diesem ganzen Gekreisch und Bohei ist die vom Hamburger Exbürgermeister von Dohnanyi, aber der ist ja auch schon über 90… Es wäre aber kaum überraschend, wenn sich diese scheinbar unversöhnlichen Regierungsmitglieder schon sehr bald lächelnd wieder die Hände schütteln und gemeinsam in die Kameras grinsen. Unter leitenden Angestellten des Kapitals lässt sich schließlich alles finanziell regeln, und ihre Gehilfen aus den Medien werden Beifall klatschen. Aber dann wird man sich alsbald neu aufstellen, um die nächste Meinungsverschiedenheit mit dem nächsten menschlichen Massaker auszuräumen…
Die Politik hat mal wieder auf ganzer Linie versagt – Politiker/innen könnten doch eigentlich längst wissen, dass sie, um ihre Ziele zu erreichen, mit Manipulation, Täuschung, Erpressung, Lügen, Bestechung, Drohungen und den anderen Methoden, auf die sie gewöhnlich zurückgreifen, viel erfolgreicher agieren, als mit Bomben und Raketen…
Ich komme zu dem Schluss: Politische Führer machen nie einen guten Job. Wenn man in einer Position der Macht ist, gibt’s dafür ja auch keine Notwendigkeit. Und Frieden ist ein Privileg für diejenigen, die es sich leisten können, in den Kriegen, für die sie selbst die Verantwortung tragen, nicht kämpfen zu müssen.

24. März 22


O des Diebstahls! O der Lüge!

Als erstes liefen alle Keller voll Wasser. Das Haltbarkeitsende von Stahl- und Spannbeton war in Kürze erreicht, Fundamente wurden mürbe und zerbröselten, Brücken, Bahnhöfe, Wohnblocks und Kathedralen stürzten ein, und schließlich wurden sogar Autos, Flugzeuge und Riesenräder von der Vegetation überwuchert.
Alle Menschen starben, was dann auch ihren Haustieren die Lebensgrundlage entzog.
Als die wenigen überlebenden Wölfe und Bären die letzten mageren Ratten und Mäuse gefressen hatten, versuchten sie, auf einen veganen Speiseplan umzusteigen, was ihnen im Lauf der Evolution dann irgendwann vielleicht auch gelang…
Die Menschen haben nicht die Erde zu Grunde gerichtet – das konnten sie nicht – sie haben nur sich selbst ausgerottet. Erst haben sie ruiniert, was sie zum Leben gebraucht hätten: Luft, Wasser, Grund und Boden, und dann gaben sie sich mit allen zur Verfügung stehenden Waffen den Rest. Sie führten Krieg, obwohl sie ganz genau wussten: Krieg hat nichts Fortschrittliches an sich. Krieg ist der Triumph einer menschenfeindlichen Ideologie der Macht. Krieg entsteht aus imperialer Gier, aus dem Machthunger der Herrschenden. Angelegenheit der einfachen Leute ist es hingegen nur, in patriotischer Trance über die Erfolge des Fortschritts an den Fronten zu diskutieren und schließlich ohne weitere Umstände zu sterben.
Die Ukraine ist nicht das erste Opfer dieser Konstellation, und sie wird auch nicht das letzte sein. Für massive Aufrüstung und schwere Waffen wird gesorgt, überall werden Pflugscharen zu Schwertern umgeschmiedet, und gern singt man dazu „Give Peace a Chance“. Und warum das Ganze? Warum?  1841 porträtierte Heinrich Heine den Bären Atta Troll, einen edlen Anarchisten, der Auskunft gibt über das Menschenwesen. 

In Caput X erfahren wir: 

Jetzt sind freilich aufgeklärter
Diese Menschen, und sie töten
Nicht einander mehr aus Eifer
Für die himmlischen Intressen; –

Nein, nicht mehr der fromme Wahn,
Nicht die Schwärmerei, nicht Tollheit,
Sondern Eigennutz und Selbstsucht
Treibt sie jetzt zu Mord und Totschlag.

Nach den Gütern dieser Erde
Greifen alle um die Wette,
Und das ist ein ew’ges Raufen,
Und ein jeder stiehlt für sich!

Ja, das Erbe der Gesamtheit
Wird dem einzelnen zur Beute,
Und von Rechten des Besitzes
Spricht er dann, von Eigentum!

Eigentum! Recht des Besitzes!
O des Diebstahls! O der Lüge!
Solch Gemisch von List und Unsinn
Konnte nur der Mensch erfinden.

Keine Eigentümer schuf
Die Natur, denn taschenlos,
Ohne Taschen in den Pelzen,
Kommen wir zur Welt, wir alle.

Keinem von uns allen wurden
Angeboren solche Säckchen
In dem äußern Leibesfelle,
Um den Diebstahl zu verbergen.

Welchen Diebstahl?
Die russische Seite will das Donezbecken einsacken, kurz auch Donbas genannt – ein großes Steinkohle- und Industriegebiet beiderseits der russisch-ukrainischen Grenze. Diese von der Schwerindustrie geprägte Region wurde wegen ihrer Rohstoffvorkommen bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts industrialisiert. Obwohl das Donbas seine ertragreichste Zeit wohl hinter sich hat, ist da immer noch einiges für Russland zu holen…
Die westliche Seite will die ukrainische Schwarzerde besitzen, die fruchtbarsten Böden der Welt. Die Ukraine ist ja nicht nur die Kornkammer Europas – jährlich werden hier über 60 Millionen Tonnen Getreide produziert, hauptsächlich Weizen, Mais und Gerste – das Land ist auch einer der größten Produzenten von Zuckerrüben in Europa und Weltmarktführer bei den Ölsaaten. Bisher war der Verkauf landwirtschaftlicher Flächen in der Ukraine verboten, aber der Internationale Währungsfond hat als Anwalt der westlichen Agrarkonzerne ganze Arbeit geleistet und Kredite an das verarmte Land daran gebunden, dass das Verbot aufgehoben wird. Das hat prima geklappt, es wurde ein neues Gesetz zum Verkauf der Schwarzerde in einer bemerkenswerten Koalition der Parteien von Präsident Selensky und seines Vorgängers Poroschenko beschlossen. Das soll und wird ohne Zweifel zu einer Konzentration der landwirtschaftlichen Flächen in den Händen einiger weniger westlicher Lebensmittel- Konzerne führen. Zur neoliberalen Weltordnung gehört nunmal der Kampf um Rohstoffe und Absatzmärkte. Deswegen der Wettlauf um die Kontrolle des Landes, darum organisiert die deutsche Regierung im Namen aller europäischen Werte und der deutschen Wirtschaft eine finanz- und handelskriegerische „Ruinierung“ Russlands (eleganter O-Ton Baerbock). Ich wage die Vermutung: Putin hat die Krim annektiert, nur damit der Westen nicht die ganze Ukraine in Besitz nehmen konnte. Atta Troll wusste es schon immer:

Nur der Mensch, das glatte Wesen,
Das mit fremder Wolle künstlich
Sich bekleidet, wußt auch künstlich
Sich mit Taschen zu versorgen.

Eine Tasche! Unnatürlich
Ist sie wie das Eigentum,
Wie die Rechte des Besitzes –
Taschendiebe sind die Menschen!

Aber in großem Stil.

21. März 22


Ultimative Dummheit

Nach der erbärmlichen Flucht der Natokrieger vor den Taliban wandten sich die Hauspapageien der Medien sofort dem nächsten Feind und der passenden toxischen Propaganda zu: Dramatische Appelle, pathetische Beschwörungen, apokalyptische Endzeitathmosphäre besetzten alle Kanäle, Angst steigerte die Einschaltquote. Peinliche Begräbnisrednerinnen beklagten mit ersterbender Stimme kommendes Unheil. Tief betroffene Anchormen&Women mixten als Stimmungsmache erbarmungslos Nachricht und Meinung durcheinander, und Gründe und Möglichkeiten, nach allen Seiten zu schauen und sich objektiv zu äußern, fanden kaum Berücksichtigung. Russia ante Portas! Heuchelei präsentierte sich als seriöse Friedfertigkeit, verzweifelt, aber von Widerstandsgeist beseelt… Der Lieblingssatz der ZDF-Nachrichten war wochenlang: „Die Lage an der ukrainisch-russischen Grenze spitzt sich weiterhin zu“. Die Damen und Herren überspitzten die westliche Propaganda zur hemmungslosen Kriegshetze. Schon seit 2014 tobt in der Ostukraine ein Krieg zwischen pro-ukrainischen Ukrainern und pro-russischen Ukrainern, und dIe deutschen Medien entwickelten in den vergangenen acht Jahren ein beachtliches Geschick, böse Russen von guten Ukrainern zu unterscheiden: Schon gleich zu Beginn der Auseinandersetzungen zeigte das ZDF Kämpfer des Asow-Regiments, die für das Innenministerium der ukrainische Regierung in der Stadt Mariupol auf Russenjagd waren – unübersehbar und stolz trugen sie an Montur und Helm das schon vom ukrainischen Nationalhelden, dem Nazikollaborateur und Judenmörder Bandera hoch geschätzte Hakenkreuz sowie SS-Runen. Der Sprecher-Kommentar dazu lautete: „Freiwilligenbataillone aus nahezu jedem politischen Spektrum verstärken die Regierungsseite“. Ekelhaft, von was für Leuten die westliche Freiheit mittlerweile verteidigt wird… Das ist natürlich kein hinreichender Grund, den Verstand auszuschalten und den großen Knüppel zu schwingen. Doch bedauerlicherweise glaubte der russische Präsident Putin, tun zu müssen, was er tun zu müssen glaubte: Er handelte nicht rational, sondern genauso, wie kalte Krieger es erwarteten: Komplett irrational. Hätte er nach erfolgtem Manöver seine Soldaten in die Kasernen zurückbeordert, hätte er einen Riesenerfolg eingefahrenhätte er einen Riesenerfolg eingefahren und der Westen eine kolossale Blamage. „Was für ein kluger Politiker!“ – hätte man weltweit gesagt: Die Ostsee-Pipeline geht in Betrieb, Europa muss nicht dreckiges Fracking-Gas aus den USA kaufen, die Treibstoffpreise schießen nicht in die Höhe, und niemand ruft zu den Waffen. Ganz und gar unnötig wäre es gewesen, Putins Freund Schröder in eine Reihe mit dem GröFaZ zu stellen, indem man ihm die Ehrenbürgerwürde aberkennt, absurd, russische Künstler zu unzumutbaren Treueschwüren zu zwingen, anderenfalls man sie nicht singen oder dirigieren lässt, idiotisch, den weltweiten Boykott russischer Bücher und Verlage zu fordern und mir die Angst einzujagen, demnächst müsse ich meine Exemplare von Gorki und Majakowski zur öffentlichen Verbrennung abgeben, lächerlich, den Russischen Zupfkuchen nur noch „Zupfkuchen“ zu nennen, und absolut brutal und unmenschlich, Sportler von den Paralympics auszuschließen, nur weil es russische Krüppel sind… Diesen mehr oder weniger sinnlosen so genannten Sanktionen hätte der russische Präsident locker ausweichen können, doch statt Vernunft walten zu lassen, zeigte sich der russische Präsident so grenzenlos dumm, wie es nur Politiker sein können: Er fühlte sich zum Bruch des Völkerrechts berechtigt, zu Bombardierungen und Artilleriefeuer. Er trieb Menschen in tiefe Trauer um ihre Toten, er zerstörte ihr Land und ihre Wohnungen, er produzierte Mitleid für die Angegriffenen, Solidarität mit den Opfern, Hilfsbereitschaft für unglückliche Flüchtlinge und sogar Besorgnis vor einem Atomkrieg. Und nun? Unsere grüne Außenministerin will Russland „ruinieren“, unser sozialdemokratischer Kanzler nennt sein Aufrüstungsprogramm „eine Zeitenwende“. Was soll das denn heißen? Zeit meines Lebens wurden ständig Kriege geführt – von Korea über Vietnam, von Ungarn und Nicaragua über den Sudan und Jugoslawien bis Afghanistan. Statistiker zählten rund 15 Armee-Einsätze Russlands in fremden Ländern und über 40 Militäroperationen der USA, viele mit Hilfe der Nato und manche davon mit der Unterstützung von Uranmantelgeschossen… Die Milliarden Kriegskosten hätte die Menschheit sehr viel sinnvoller für die Bekämpfung des Hungers und eine Klimaverbesserung verwenden können. Immerhin, Deutschland hat sich nur an Kriegen im Ausland beteiligt und über 70 Jahre Frieden im eigenen Land hinter sich. Diese Art Frieden wurde jungen Leuten, die zum Beispiel gegen soziale Missstände demonstrierten, jahrzehntelang als Grund zur Dankbarkeit vorgehalten. Und letztlich wussten sie auch: Wir, in unserer heilen Welt, mit unserer westlichen Mentalität, haben ein ziemlich angenehmes Leben. Im Nahen und Mittleren Osten, in Afrika, Südasien und Lateinamerika – bei den Unterentwickelten – ja, da gibt es bittere Armut, da herrschen Militärdiktaturen, sind Massenmorde normal, gehören Massaker zum Alltag, da machen schon Neugeborene ihre Kriegserfahrungen.  Und nun eine Zeitenwende? Also Not & Elend für alle? Schon möglich – wenn der russische Präsident wirklich, wie ihm der deutsche Kanzler unterstellt hat, die Uhren in die Zeit der Großmachtpolitik des 19. Jahrhunderts zurückdreht. Dafür muss er allerdings weiterhin dem Beispiel des preußischen Ministerpräsidenten Otto Eduard Leopold Graf von Bismarck-Schönhausen folgen. Der erklärte 1870: „Die ganze Erwerbung des Elsass und Lothringens geschah ja nicht aus Liebe der Einwohner zu uns und nationaler Gesinnung der deutschen Bewohner, sondern sie war für uns ein rein geographisches Bedürfnis, den Ausgangspunkt der französischen Angriffe weiter wegzurücken, dass man sich wenigstens ausrüsten kann, ehe sie bis Stuttgart vordringen“. Na gut, Bismarck war in diesem Punkt wenigstens ehrlich…  Wenn moderne deutsche Politiker zur Erklärung ihres Weltbildes die deutsche Geschichte bemühen, merkt man nicht selten, dass sie Opfer ihres hausgemachten Bildungssystems sind. Kevin, ein juveniler SPD-Funktionär, machte im Fernsehen deutlich, dass er sein Studium zu Recht abgebrochen hat. Er sagte: „Allein schon die deutsche Geschichte zeigt, dass es Situationen gibt, in denen die Logik des Militärischen als letzte Instanz genutzt werden muss. Deswegen bin ich kein Pazifist“. Das heißt auf Deutsch: Waffen liefern und Soldaten in Marsch setzen, Schützengräben besetzen, Raketen abfeuern, Kesselschlacht schlagen, den Feind niederwerfen, Endsieg! Jawoll! Hilfs-Landser Paul Ronzheimer, Hetzfachmann von der Bildzeitung, angetan mit Stahlhelm und schusssicherer Weste, liegt schon in einem sicheren Fernsehstudio im Hinterhalt, Kriegsreporterinnen in Lwiw (Nein! Lemberg!) versuchen sich im Eifer des Gefechts und mit flackerndem Blick an strategisch bedeutsamen Spekulationen – da hört man dann zum Beispiel so eine skurrile Meldung wie „Granaten haben vermutlich ein Blindenheim lahmgelegt“, und unangenehm knarrende Befehlsorgane deutscher Generale drohen wie in ruhmreichen Barbarossa- Zeiten martialisch mit „Draufhauen“. Da könnte einen die Ankündigung eines Experten, nun zeichne sich am Horizont endlich die Rache für Stalingrad ab, auch nicht mehr überraschen…
Wie man’s dreht und wendet: Auch für diesen Krieg sind nirgends stichhaltige Gründe zu erkennen. Deshalb wäre es ein Zeichen von Restintelligenz, ernsthaft Wege aus der Konfrontation zu suchen. Ich denke, ein erster Schritt könnte der Eintritt Russlands in die Europäische Union sein. Da gehört es nämlich hin, da ergibt sich für die Europäer eine Win-Win-Chance, und wir hätten endlich eine Werte-Union, die den Namen auch verdient. Wenn das nicht bald gelingt, erleben wir vielleicht die letzten Tage der Menschheit. Und dann, wie weiter?
Sicherheitshalber melde ich mich an zur Petrifizierung, und in etwa 50 Millionen Jahren werden postmoderne siebenbeinige Touristen neuester Bauart fossile Partikel von mir aus dem Anthropozän ausgraben, eingeschlossen in einer versteinerten Plastiktüte, was bei den umstehenden Weltraumreisenden hellglühende Begeisterung auslöst…


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