Besser, wir sind mal ganz still

Sie waren vermutlich Zwangsarbeiter beim Bau der Pyramiden in Ägypten, sie waren Jahrzehnte in babylonischer Gefangenschaft, die Römer haben ihren Tempel zerstört, die Gläubigen totgeschlagen und den Rest in alle Welt zerstreut. Ihre Unterdrückung wurde mit dem Aufstieg des Christentums zum Dauerzustand in der Geschichte. Höhepunkt waren die organisierten Pogrome während der Reconquista und die Vertreibung von der iberischen Halbinsel durch die katholischen Majestäten. Zur Zeit der Kreuzzüge stellte man sie vor die Wahl „Taufe oder Tod“. Tausende, die nicht konvertieren wollten, wurden erschlagen.
Besonders schlimm erging es ihnen dann in den sogenannten „Pestpogromen“ zwischen 1348 und 1353. Warum? Abgesehen von mangelnder Aufklärung gab es religiöse, politische und finanzielle Ursachen, initiiert durch Weltverschwörungstheorien und die Unterstellung von Ritualmorden sowie durch Gerüchte über Brunnenvergiftungen und Hostienschändungen.
Bis ins 19. und 20. Jahrhundert mussten sie grausame regionale Verfolgungen ertragen – in Deutschland, Polen, Russland und anderen Teilen der Welt. Immerhin – bis 1920 wurde ihnen im Osmanischen Reich die freie Glaubensauslebung gegen eine Kopfsteuer gewährt, aber zu keiner Zeit waren sie den Muslimen gleichgestellt: Aussagen von Muslimen galten vor Gericht als wesentlich gewichtiger als die von „Ungläubigen“. Schließlich kulminierte der Hass auf sie im Holocaust, einem beispiellosen Verbrechen mit Millionen Opfern. Nichts ist erschütternder als ein Besuch in der Gedenkstätte Yad Vashem bei Jerusalem…
Die Juden – sie sind zumindest ein einzigartiges Volk. Und jetzt, 2000 Jahre nach ihrer Vertreibung, sind sie endlich wieder in ihrem Land, aber nun von Staaten umzingelt, die drohen, sie ins Meer zu werfen. Angesichts dieser Geschichte: Wer wagt es, sie zu schmähen, wenn sie ihren selbstständigen Nationalstaat verteidigen und eine Stärkung und Vergrößerung des Staates Israel zu erreichen suchen?
Als ich vor einigen Jahrzehnten mit einem Freund in Israel war, wusste ich selbstverständlich alles über israelischen Imperialismus und das unterdrückte palästinensische Volk. Wir saßen in Netanja im Straßencafé und unterhielten uns. Eine sehr alte Dame kam an unseren Tisch und sagte, ich höre, Sie reden deutsch, kommen Sie doch rüber zu mir und meinem Mann, dann können wir ein wenig plaudern, wir haben es 1939 gerade noch geschafft, aus Berlin rauszukommen. Sind Sie zum ersten Mal in Israel? Wie gefällt es Ihnen denn? Ich antwortete, es sei mir zu viel Militär unterwegs. Im Bus, auf dem Hotelflur, im Kino, in jedem Restaurant – überall Militär, hochbewaffnet. Ja, sagte die alte Dame, das sind unsere jungen Leute, die beschützen uns, bei denen fühlen wir uns sicher. Das ist sehr gut…
Und weil das so ist, und weil die Worte der alten Dame jedem Außenstehenden das Maul stopfen sollten, möchte ich all denen, die Transparente hochhalten mit Aufschriften wie „Juden sind die neuen Nazis“ oder „Stoppt den israelischen Holocaust in Palästina“ oder „Wir wollen keine Judenschweine“, empfehlen, nicht länger ihre profund antisemitische Einstellung als angeblich gutgemeinte Kritik am Staat Israel zu verhökern, sondern in aller Demut zur Kenntnis zu nehmen: Als der Staat Israel gegründet wurde, geschah das nur aus einem einzigen Grund: Um jüdisches Leben zu schützen. Das war sein einziger und ganzer Zweck. Beschämend ist es, wie vielen Leuten in unserem Lande das schon wieder nicht mehr passt. Und jene Leute, die mit dem Spruch kommen, „ich hab’ nix gegen die Juden, wirklich nicht, aber der Staat Israel und seine Politik…“ – müssen mal zur Kenntnis nehmen, Israel ist der Staat der Juden. Der Satz „ich hab’ nix gegen, ABER…“ leugnet das Existenzrecht Israels und ist demnach eine antisemitische Äußerung.
Und weil uns die Aufrechnung der Konfliktgeschichte des Nahen Ostens erwiesenermaßen nicht weiter hilft, sollten wir uns auf zwei Lehren aus der Vergangenheit besinnen: Auschwitz fordert meine Solidarität mit Israel, und: Ich soll nie wieder wegsehen, wenn Unrecht geschieht – und das betrifft selbstverständlich auch das palästinensische Volk. Wir sind aufgerufen, beiden Seiten mit aller Kraft zu helfen – aber nicht mit Rüstungsgütern, Geld für Terror-Organisationen und Propagandageschrei. Und erst recht nicht mit gelehrten Experten oder besserwisserischen Diskussionsrunden, die sich, als Nachkommen der Nazigeneration, für berechtigt halten, dem Staat der Juden Verhaltensvorschriften zu machen. Wir Deutschen haben für das Thema keine Prokura.

17. 5. 21


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