ZUM JAHRESWECHSEL 2021 / 2022

König Rudolph III von Burgund sagte vor 1000 Jahren: „Indem wir den Untergang dieser sinkenden Welt vor uns sehen, erwarten wir voll Furcht das Ende allen Fleisches“.
Das hat sich als ziemlich richtig erwiesen, denn zumindest die Billigfleisch-Tresen in den Supermärkten sind an dieser Jahreswende von den Resten der Massentierhaltung geräumt. Darüberhinaus dürfen wir feststellen: Wir, die Guten, bewirkten seitdem schon viel Gutes auf unserer angeblich sinkenden Welt: Erst gestern hat in den Kasseler Bergen ein Lastwagen nach Jahrzehnten des Bangens ein Überholmanöver siegreich beendet, und in den USA hat ein Afroamerikaner unverletzt eine Polizeikontrolle überstanden. Doch das ist nicht alles! In der hinter uns liegenden Zeit haben wir die organisierte Kriminalität besiegt, die Hasskriminalität im Internet ausgerottet, jegliche Gewalt beendet und die Tötung der Wale mit Plastiktüten unterbunden.

Unser Außenministerium hat begriffen, dass Russland von altersher zu Europa gehört und eine Wiederbelebung der traditionellen deutsch-russischen Freundschaft von großem Nutzen sein könnte. Unser Wirtschaftsministerium hat in einer festbeschworenen Allianz mit China den Hunger in der Welt verboten, unser ADAC hat unseren Verkehrsminister überzeugt, ein Tempolimit von 120 km/h sei eine gute Sache, und unser Justizministerium hat erfolgreich eingesehen, dass Snowden, Assange und Chelsea Manning nun endlich die gleichen Menschenrechte zustehen wie Navalny. Die USA haben mit Zustimmung der UNO beschlossen, alle Herrschaftsansprüche aufzugeben and to make America nicht noch greater.


Das Klima gehorcht jetzt zu unser aller Nutzen dem Kommando der Kinder. Wir haben eine sozialverträgliche Reichensteuer und keine Obdachlosen mehr. „Nein“ heißt nun auch offiziell „Nein“, Vergewaltigung geht gar nicht mehr, und wir bremsen mittlerweile sogar für Flüchtlinge. Die Rechtsradikalen haben sich in Grund und Boden geschämt oder sind bei ihrer Flucht nach Libyen im Mittelmeer untergetaucht, die Querdenker wurden medizinisch allesamt optimal auf Intensivstationen versorgt und abschließend in Massengräbern entsorgt. Wir haben die finalen Fragen – Sterbehilfe, Suizid, Abtreibung – ultimativ geklärt, und schließlich ist es uns gelungen, den Corona-Virus an den Rand der Gesellschaft zu drängen, wo er die Invasion anderer Viren verhindert.
Martin Luthers Satz „Die Welt hat nicht einen solchen Ekel an mir, als mein Ekel an dieser Welt ist“ hat also erstmal seine Gültigkeit verloren, und im Geiste von Vernunft und Tatkraft schreiten wir munter voran ins neue Jahr. Was wird es uns bringen?


Ohne Frage die gesundheitsförderliche Zigarette, ein wirksames Schnupfenmittel, regensichere Fahrradkleidung und für Musikanten einen automatischen Notenblattwender. Ferner ein unkaputtbar nachwachsendes Gebiss, das Ende von allen Stauenden sowie einen absolut geräuschlosen Laubsauger. Am meisten dürfen wir uns aber darüber freuen, dass endlich der ausschließlich individuell nutzbare Traum-Mann und die ego-kompatible Traum-Frau auf den Markt kommen.

Interessant ist natürlich auch, ob sich bewahrheitet, was der US-amerikanische Zukunftsforscher Herman Kahn 1967 der Menschheit in unserer Zeit prophezeit hat:
Die Erzeugung synthetischer Nahrungsmittel, Ackerbau auf dem Meeresboden, gezielte Gewichtskontrolle, wirksame Verjüngungskuren, Verhütung von Erbkrankheiten und phrasenfreie Politikerreden.

Ich denke, die Menschheit hat vorzügliche Zukunftschancen:
Wir werden uns auf unsere Funktionalität reduzieren und als Teil einer globalen Megamaschine einrichten – als Menschen, die sich mit ihrer Rädchenexistenz völlig zufriedengeben und den Kopf nicht hängen lassen. Denn wir wissen: Jedes Fürzlein hat seine eigene Würde, und je ausgestorbener das Mammut, desto eher wird es rückgezüchtet. Also – Gottfried Benn liefert uns das Motto des neuen Jahres: „Morgendämmerung gibt’s alle naselang!“

27. Dezember 21


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