Zeitenwende 22/23

Aus der Zeit gefallen – so kommt man sich vor, und als Teil einer vom Aussterben bedrohten Art, zumal zu hören ist, die Vogelscheuchen sterben auch aus, obwohl man das nicht recht glauben mag – zu viele begegnen einem noch in den Fußgängerzonen – aber auch schon früh morgens im Badezimmer, beim Zähneputzen, glotzen sie aus dem Spiegel… Mir stellt sich die Zeit in erster Linie als Gedächtnis-Müllhalde dar – eine Abfalldeponie im Hirn: Und nichts schützt mich davor, dass mir ganz plötzlich dort endgelagerte Fakten und Personen einfallen, zum Beispiel der SPD-Chef mit dem prae-emanzipatorischen Namen Ollenhauer. Oder die sensationelle Claudia Nolte, einst eine blütenweiße Rüschenbluse im Kabinett Kohl. Und der Pfarrer Hintze, der unter dem Namen Fliege im Marienhof wegen Mutter Beimer und ihrer roten Socken immer Heulkrämpfe bekam und in der Lindenstraße als Maschendrahtzaun endete – Sie erinnern sich? – der hatte eine Ausstrahlung wie ein vom Grill gefallenes Nitratwürstchen…Keine Ahnung, warum der mir jetzt einfällt… Das war jedenfalls zu einer Zeit, als ich noch davon überzeugt war, am Anfang schuf Gott Marika Rökk und Johannes Heesters. Das geschah zu der Zeit, da Heinrich Lübke Landpfleger in Peenemünde war.
Wie lange das alles her ist…
Die Zeit beschreibt die Abfolge von Ereignissen. Sie stellt sich geometrisch als eine Gerade dar, verläuft also eindimensional. Sie hat eine unumkehrbare Richtung und kann weder wenden noch gewendet werden. Das weiß auch unsere Regierung: Die Zeit ist relativ, aber so relativ, dass sie nach rechts oder links, oben oder unten abbiegt, nun auch wieder nicht. Eine Zeitumkehr, zurück zu Hellebarde oder Pfeil + Bogen, geht gar nicht – man wäre schon froh, wenn man wenigstens den Puma ans Laufen kriegen würde… Deswegen versucht der dynamische Olaf, unser Kanzler und Einsteins Stellvertreter auf Erden, mit Hilfe der physikalischen Prinzipien der Thermodynamik die Richtung der Zeit als Zunahme der Entropie, d. h. der Unordnung in einem abgeschlossenen System, neu zu bestimmen, und so seine Theorie von der Zeitenwende ins Übersinnliche zu wenden.
Da dürfen wir auf eine Vertrauen weckende Formel gespannt sein…
Ich jedenfalls erwarte für den Frühling der frisch gewendeten Zeit, dass dann die Stromzähler rückwärts laufen, dass im Fernsehen alle Ziehungen der Lottozahlen seit 1965 wiederholt werden, dass sich die Eingangstüren aller Banken und Sparkassen öffnen und Safes und Schließfächer die Passanten zum Zugreifen einladen. Wär doch mal was Neues, passend zum Zeitgeist…
Keine Zweifel lässt die Regierung schon heute aufkommen, dass die Ökonomie, also auch unsere Volkswirtschaft, die Zeit als Wertgegenstand betrachtet – die Älteren erinnern sich gewiss noch an jene Epoche der Stechuhr, die vermutlich schon bald ihre Renaissance im Bereich Home-Office erleben wird… Zeit und Wirtschaft – da fällt mir ein:
Vor 20 Jahren, im Januar 2003, wurde das Pfand für Getränkedosen und Einwegflaschen mit Bier, Mineralwasser und kohlensäurehaltigen Erfrischungsgetränken erhoben. Seitdem leiste ich mir jeden Tag ein Sechserpack. Die Sorte ist nicht so wichtig, Hauptsache, man kriegt zu jedem Bier eine Dose dazu, gratis. Ich bin zum leidenschaftlichen Dosensammler geworden und habe rund 37 800 Stück in meinem Keller. Demnächst bringe ich meine stetig wachsende Sammlung zur nächsten Annahmestelle, und die dann 38 000 Dosen verwandeln sich in 9500 € Bargeld. Saufen lohnt sich! Und je mehr man säuft, desto weniger macht es einem aus, sich an den Dosenpfandmissionar Trittin zu erinnern…
Was einem allerdings die Laune versaut: Auf der Suche nach der gewendeten Zeit stößt man unweigerlich auf die Lebensmittelpreise. An jedem Regal macht uns die Zeitenwende klar, dass bestimmte Beträge in kürzester Zeit immer in eine bestimmte Richtung – also in die Höhe – steigen. An der Fleischtheke kann man feixende Moslems beobachten – deren Prophet hat schon vor 1500 Jahren vom teuren Schweinebraten abgeraten, und die Hindus grinsen angesichts der Preise für Filetsteak und Kalbsgulasch.. Und wissen Sie, was ich aus sicherer Quelle erfahren habe? Im Tofu werden neuerdings auch Fischmehlbeimengungen verarbeitet. Die Zeit, ob gewendet oder nicht, ist aus den Fugen…
Balancierend auf der Schnittstelle von Vergangenheit und Zukunft hat der kühne Zeitgenosse Olaf sich eine Erkenntnis aus dem Wehrunterricht für die 9. und 10. Klasse in der DDR zunutze gemacht und daraus eine zeitlich angepasste Neujahrs-Botschaft formuliert, um weltweit Durchhaltewillen und Siegeszuversicht zu stärken:
Liebe Mitbürger*innen, die Kraft der Pulvergase eines Geschosses von 5 Kilogramm Masse, das ein zwei Meter langes Rohr mit einer Geschwindigkeit von 800mxs hoch minus 1 verlässt, ist nur selten während der gesamten Beschleunigungszeit konstant, so dass es nach meiner Einschätzung immer zur Unzeit einschlägt, was einer von Krieg betroffenen Zivilbevölkerung im Rahmen ihres Raum-Zeit-Kontinuums relativ wenig Chancen einräumt, den nächsten Bunker zu erreichen. Beeilt Euch also, wenn Ihr mit der neuen Zeit Schritt halten wollt. Und erinnert Euch, was Barry Ryan 1971 sang:
Zeit macht nur vor dem Teufel Halt
Denn er wird niemals alt
Die Hölle wird nicht kalt
Zeit macht nur vor dem Teufel Halt
Heute ist schon beinah‘ morgen
Die Zeit, alle Zeit, Ewigkeit

30. Dezember 22


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