Saltos gegen die Panik

Zur Jahreswende 2022/23 sollen den letzten drei Kernkraftwerken, die in Deutschland noch Atomstrom produzieren, die Stecker gezogen werden. Einst die Kathedralen des Erfindungsreichtums und des Fortschritts – jetzt nur noch Mahnmale der Vergänglichkeit, der Frustration und menschlicher Holzwege. Doch weiterhin gibt es diese umtriebigen Betonköpfe, deren politischer Horizont in der zwielichtigen Grauzone des Lobbyismus verläuft, und die Konzerne, die auf ihre Atom-Geschäfte keinesfalls verzichten wollten, und auch diese verlogen lächelnden Verfechter von Kompromissen, die allzeit bereit sind, fortschrittliche Maßnahmen zu unterlaufen, sie werden nicht weniger. Diese Leute lauern seit 11 Jahren auf ihre Chance, seit nach der Fujijama-Katastrophe eine Atomgesetznovelle den deutschen Atomausstieg 2011 besiegelte.

Und die Chance kam im Februar 2022, als Russland die Ukraine angriff. Das war zweifellos ein inakzeptabler Völkerrechtsverstoß. Der Westen (Die Guten) reagierte mit „Sanktionen“. Der Osten (Die Bösen) antwortete mit „Erpressungen“. Ein Unterschied war kaum feststellbar. Atomwaffeneinsatz stand drohend im Raum, Lieferketten wurden unterbrochen, es kam zu Versorgungsengpässen, Flugzeuge flogen nicht mehr, der Stillstand von Industrieanlagen wurde befürchtet, Wirtschaftszweige kollabierten, Lebensmittelpreise stiegen rasant, es gab Hungersnöte, und ein kalter Winter stand bevor. Die Spirale des Hasses und der Gewalt drehte immer intensiver, die Opferzahlen stiegen, aber niemand bemühte sich ernsthaft, energisch und mit Phantasie um Frieden. Der Wille und die Intelligenz, sich gegenseitig zu verstehen, waren ausgeschaltet, und die deutsche Außenministerin erklärte kategorisch, Gespräche mit dem russischen Anführer seien sinnlos.

In herzlichem Einverständnis mit der Politik heizten Deutschlands Medien die Ängste der Bevölkerung an: Was, wenn der Gasherd nicht mehr funktioniert und die Heizung ausfällt? Was, wenn’s wieder Stromsperren gibt? Gibt’s dann auch kein Warm-Wasser mehr? Alte Leute haben das schon mal erlebt! Und kann man dann wieder kein Klopapier mehr kaufen? Muss ich Angst um meinen Arbeitsplatz haben? Können wir dann nächstes Jahr nicht nach Teneriffa fliegen? Was, wenn das Klima sich wirklich ändert und das Wetter immer schlechter wird? Ein neues Auto kriegen wir doch trotzdem, oder? Ist es denn besser, unsere alten Wintermäntel noch nicht wegzugeben? Soll ich mich schon mal mit Zigaretten und Schnaps eindecken, für den Schwarzen Markt? Steht Deutschland erneut vor einem Zusammenbruch? Kriegen wir vielleicht sogar wieder Care-Pakete aus Amerika? Oder kümmern sich diesmal die Chinesen um uns? Fragen über Fragen, die Politikern und Medien das Signal lieferten für heftiges Purzelbaum-Schlagen.

Mit Kehrtwendungen, Neu-Orientierungen und Richtungshinweisen als erster in die Schlagzeilen zu kommen ist traditionell der Ehrgeiz und ein wesentlicher Bestandteil bayerischer Polit-Strategie, und so ist auch der frühere Bayerische Staatsminister für Bundes- und Europaangelegenheiten, des weiteren Bayerischer Staatsminister für Umwelt und Gesundheit, ferner Bayerischer Staatsminister der Finanzen, für Landesentwicklung und Heimat und heutiger Bayerischer Ministerpräsident des Freistaates Bayern, Markus Thomas Theodor Söder, mal wieder der schnellste: Gleich nach der Havarie des Atomkraftwerks in Fukushima forderte er, der so gern ganze Wälder abholzen lässt und dabei von der „Bewahrung der Schöpfung“ spricht, Deutschland müsse aus der Atomenergie aussteigen – „Japan ändert alles!“ – er drohte gar mit seinem Abdanken aus der Politik, sollte Bayern der Kernenergie nicht pfüati sagen, und in einem Interview mit dem Deutschlandfunk erklärte er, eine Verlängerung der Kernenergie sei „weder gesellschaftlich, noch energiepolitisch wünschenswert“. Ausdauernd und konditionsstark hechelte Salto-Spezialist Söder den eigentlich eher grünen Positionen hinterher. Und nun?

Eines Morgens vor dem Spiegel entdeckte Ministerpräsident Söder den Wendehals in sich. Er rief seine Hofberichterstatter zu sich, guckte so bezwingend und wissend wie möglich, und dann sprach er sich, keinen Widerspruch duldend, für eine Laufzeitverlängerung der Atomkraftwerke aus. Er persönlich hatte über Nacht erkannt, es gebe „keine Argumente dagegen – außer rein ideologische Basta-Argumenten“. Und Vorschläge wie Fahrverbote oder die Absenkung von Temperaturen, sozusagen „kalt duschen“, seien „für ein Wirtschaftsland wie uns nicht machbar“, verkündete er, und dann ordnete er noch an, eine Verlängerung des bayerischen Atomkraft-Meilers Isar 2 sei auch möglich. So sprach der bayerische Regent, ein Fachmann von Gottes Gnaden.

Dass für die FDP kein Weg an einer Laufzeitverlängerung der Atomkraftwerke in Deutschland vorbei führt, war keine Überraschung – das hat die Partei ihren bevorzugten Gesprächspartnern von der „Bildzeitung“ mehrmals mitgeteilt. Der Liberallala- Fraktionschef im Bundestag sagte: „Wir erwarten für den Winter europäische Solidarität. Deshalb ist es richtig, dass auch Deutschland Solidarität zeigt. Wir müssen daher alles, was zur Stromproduktion beitragen kann, auch nutzen. Kernkraftwerke gehören dazu.” Solidarität mit der Atom-Industrie also, der angestammten FDP-Klientel. Solidarität mit frierenden Menschen hat diese Partei doch noch nie aufgebracht. Und damit ist auch in Zukunft nicht zu rechnen.

Und schließlich erneuerte CDU-Chef Friedrich Merz die Forderung seiner Partei, eine Laufzeitverlängerung der Atomkraftwerke zu ermöglichen. An die grünen Kolleginnen und Kollegen appellierte er, sie müssten beim Thema Atomkraft über ihren Schatten springen. Es dürfe „keine Denkverbote“ geben. „Tut es für Deutschland“, bettelte er. Irgendjemand sollte diesem reaktionären Bereicherungs-Experten mal mitteilen, was wirklich alles für Deutschland zu tun ist, und zwar lange vor einem Atomausstieg…Dazu gehört jedenfalls nicht, die Büchse der Pandora zu öffnen – you remember?

Ein aktueller Mythos aus finsterster Vorzeit:
Pandora (griechisch: „Die, die alles schenkt“ oder „Die mit allem Beschenkte“) besaß eine Büchse, ein Geschenk von Göttervater Zeus – wie alle Göttergeschenke eine zwiespältige Angelegenheit. Ihr wurde dringend geraten, die Büchse niemals zu öffnen – logisch, dass sie’s doch tat. Aus der Büchse entwich alles Üble und Schlechte, was die Menschheit bis dahin gar nicht kannten: Krankheiten, Laster, Mühen, Sorgen und auch der Tod. Bevor am Schluss auch die Hoffnung entfliehen konnte, schloss Pandora die Büchse wieder. Und so wurde die Welt ein trostloser Ort ohne jede Hoffnung…

27. Juli 22


(c) 2024 Henning Venske