Perspektivlos

Zur Zeit werden wir mit populistischem Unrat überhäuft, und es ist kaum zu glauben, auf welch primitivem Niveau die öffentliche Diskussion abläuft. Seit am 2. Weihnachtsfeiertag 2020 eine 101 Jahre alte Dame zu besichtigen war, der im Fernsehen als erster eine Spritze gegen Corona in den Oberarm gepiekt wurde, quälen uns in jeder, wirklich in jeder Nachrichtensendung Großaufnahmen von Spritzen, die in mehr oder minder welkes Fleisch eindringen. In den rund 70 Tagen seit jenem ersten Impf-Event in Halberstadt präsentierte man zig-tausend Wiederholungen: Spritze spritzt in Oberarm – da kann man Kameraleute und Redakteure nur zu ihrem informativen Einfallsreichtum beglückwünschen.

Zudem belästigen uns die Medien mit ständigen Politiker-Hinweisen auf dringlichst benötigte Perspektiven. Nur Olaf Scholz, das Feldherren-Imitat der SPD, nach seiner Perspektive für die Menschen befragt, spricht generalstabsmäßig von „Strategie“. Immerhin hat er sich für eine Perspektive zur Öffnung des Kulturbereichs ausgesprochen. Das ihm treu ergebene „Hamburger Abendblatt“ stimmt zu : Die Menschen in Hamburg brauchen eine Perspektive. Der nicht minder konservative Weser-Kurier geht noch ein Stück weiter mit der hochintelligenten Frage: Wie viel Perspektive ist möglich? Niemand konnte diese Frage bislang schlüssig beantworten. Nicht mal der Schwadroneur Christian Lindner.

In einem Interview mit dem Fernsehsender der Tageszeitung „Die Welt“, das die Moderatorin einleitete mit dem erstaunlichen Versprechen „Wir wollen das Thema ein bisschen vertiefen – Herr Lindner…“ sagte der FDP-Vordenker: Die Menschen im Land brauchen eine Perspektive. Im nächsten Interview sagte Herr Lindner: Unser Land braucht eine Perspektive auf Öffnung. Mehrmals forderte er zudem eine rasche Öffnungs-Perspektive. Man konnte ihn aber auch schimpfen hören: Öffnungs-Perspektive? Das ist eine Fata Morgana! Und dann, klagend: Die Ministerpräsidentenkonferenz hat überhaupt gar keinen Stufenplan vorgelegt. Das zeigt: Die Bundesregierung hat gar kein Interesse an einer solchen Perspektive! Schließlich stellte Herr Lindner tadelnd fest: Es fehlt eine Perspektive, wie’s denn weitergehen soll. Na, mit den richtungsweisenden Forderungen sogenannter freier Demokraten natürlich:

Sebastian Körber, Mitglied des bayerischen Landtages: Die Menschen brauchen wieder eine echte Perspektive. Das stimmt. Gefälschte Perspektiven braucht kein Mensch… Hans-Ulrich Rülke aus Baden-Württemberg: Die Menschen brauchen eine Perspektive für die Freiheit. Dummes Zeug, brauchen sie nicht… Und Thomas L.Kemmerich, der Beinahe-MP von Thüringen: Die Menschen brauchen eine Perspektive…Wir müssen uns dem Virus nicht unterordnen, sondern mit ihm leben. Der Mann spricht aus Erfahrung: Mit dem Virus AfD wollte er sich auch schon mal ins Bett legen… Da sah er wohl eine Perspektive.
Nicht weit weg von diesen todesmutigen Vaterlandsverteidigern bewegt sich der Chefredakteur des Münchner Merkur, Georg Anastasiadis. Er schreibt: Wichtig ist, dass die erschöpften Bürger endlich eine Ausstiegs-Perspektive erkennen… Eine Null-Covid-Strategie hält unsere Gesellschaft nicht aus. Sie wäre unbezahlbar… Soviel Macht über unser Leben dürfen wir dem Virus nicht geben.
Klar, lieber ein paar Leute mehr verrecken lassen, als weiterhin den Baumarkt zu schließen…

Robert Wüst, Präsident des Handwerkskammertags Brandenburg, spricht für das Friseur- und Kosmetikerhandwerk: Echte Perspektiven sind das, was diese Unternehmer so dringend brauchen. Planungssicherheit und eine verlässliche Öffnungs-Perspektive wünscht sich Sarna Röser, Vorsitzende der Jungen Unternehmer. Die IG Gastro in Köln veranstaltete eine Mahnwache unter dem Motto: Ohne Perspektiven geben wir den Löffel ab! Zum Trost verkündete der Ministerpräsident von NRW, Armin Laschet: Nach vier Monaten des Lockdowns brauchen die Menschen, brauchen die Unternehmen Perspektiven…Und ich bin sicher, dass es uns gelingen wird, den so besonders von den Einschränkungen betroffenen Branchen wieder eine Perspektive aufzuzeigen. Bundeswirtschaftsminister Altmaier bestätigte das in der ihm eigenen Originalität. Er sagte: Insgesamt ist jetzt das vorrangige Ziel, für viele Bereiche der Wirtschaft eine Öffnungs-Perspektive zu entwickeln.

Eine ganz und gar ungewöhnliche Perspektive spricht Marcus Weinberg an, der seniorenpolitische Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion: Ältere Menschen und ihre Familien brauchen jetzt eine Perspektive, wie ihr familiäres und soziales Leben unter Einhaltung des Infektionsschutzes in Zukunft stattfinden kann. Ja gut, aber die endliche Perspektivlosigkeit alter Menschen bleibt doch wohl bestehen, oder?
Bundesgesundheitsminister Spahn äußert sich wie immer ein wenig nebulös: Laien-Selbsttests könnten perspektivisch dazu dienen, wieder Besuche von Theatern oder anderen Veranstaltungen zu ermöglichen. Das ist die Perspektive, sagt er. Aber ganz im Sinne der Abonnenten und gewohnt luzide äußert sich „Die Zeit“: Die Menschen brauchen eine Zeit-Perspektive. Witzig, wer kommt denn schon auf sowas…

Die Perspektiven-Beschwörung nimmt kein Ende. Offenbar ist Perspektive ein Begriff, der Wichtigkeit signalisiert. Der Verdacht liegt nahe: Perspektive ist letztlich nur ein anderes Wort für „Subvention“, „sicheres Einkommen“ oder „Liquidität“, für „Umsatz“, „Profit“ und „Kreditwürdigkeit“. In wissenschaftlichen Statements ist von Perspektiven ja eher selten die Rede, die medizinische Wissenschaft stellt vielmehr Prognosen, sie hat’s nicht so mit den Vorhersagen und den Versprechungen. Es sind die politischen Interessenvertreter, die glauben, mit Eloquenz ihre eigene Perspektivlosigkeit verschweigen und dem niederen Volk einreden zu können, als Volksvertreter wisse man, wo’s langgeht. Mit dem Gerede über Perspektiven bauen sie Kompetenz-Attrappen auf, um der Allgemeinheit vorzugaukeln, sie würden Volkes Willen vollstrecken, und es würde sich lohnen, sie zu wählen. Das alles ist Populismus der übelsten Art. Und die SPD? Immer mittenmang dieser Kulissenschieberei.

Der Bundestagsabgeordnete Mützenich: Die Menschen brauchen klare Perspektiven. Ein unbekannter, aber umso aufgeregterer SPD-Abgeordneter im Landtag von Baden-Würtemberg: Es gilt darauf hinarbeiten zu können, dass die Menschen eine Perspektive haben… hier braucht es verlässliche Planungs-Perspektiven. Die Vorsitzende der hessischen SPD: Die Menschen in Hessen und darüber hinaus brauchen eine langfristige Perspektive, wie es in der Corona-Krise weitergeht. Diese Perspektive hätte gern auch Frau Renate Scheichelbauer-Schuster, die österreichischen Gewerbe-Obfrau: Es braucht natürlich Planbarkeit … genauso wie die Menschen eine Perspektive brauchen in Richtung Ende der Pandemie. Und SPÖ-Chef Martin Staudinger verlangt rigoros: Die Menschen brauchen Unterstützung und Perspektiven – und das JETZT! Jawoll, kein Problem:

Perspektive hat viel mit dem Standpunkt des Betrachters zu tun. Von welchem Standpunkt aus man eine perspektivische Sichtweise (wörtlich: Durchblick) offeriert, ob man eine fundamentale Doppel-Perspektive postuliert oder den philosophischen Perspektivismus bevorzugt – Menschen entwerfen je nach Perspektive unterschiedliche Bilder der Wirklichkeit, denn Perspektivismus ist eine erkenntnistheoretische Grundhaltung. Das Problem ist nur: Wenn man sich damit nicht auskennt, ist man schnell ziemlich perspektivlos.

Am besten, Deutschland hält sich an das perspektivische Denken von Altkanzler Gerhard Schröder. Der fasste 2004 seine Eindrücke von einer Afrika-Reise und seine Haltung zur Afrika-Politik so zusammen: Die Menschen brauchen eine positive Perspektive.
Genau – kein Mensch braucht eine negative Perspektive.

5. 3. 21


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