Nirgends was Neues

Von 1914 bis 1918 konnten Bürger und Bürgerinnen des deutschen Kaiserreiches in ihren Zeitungen den täglich herausgegebenen „Tagesbericht“ zum Kriegsgeschehen lesen. Die Überschriften lauteten schlicht: „Westlicher Kriegsschauplatz: nichts Neues“, oder „Keine wesentlichen Ereignisse“, oder „Keine besonderen Ereignisse“, und das Freiburger „Tageblatt“ titelte als erste deutsche Zeitung: „Im Westen nichts Neues“. Diese angesichts der Kriegs-Massaker zynische Formel wurde schon bald auch in offiziellen Berichten benutzt – in den Bewegungen des Stellungskrieges gab es eben keine Neuigkeiten, nur eine Menge Tote.
1928 erschien der Antikriegsroman „Im Westen nichts Neues“ von Erich Maria Remarque. Obwohl von Erich Maria Remarque als „unpolitisch“ bezeichnet, gilt der Roman bis heute als einer der bedeutendsten der sogenannten Antikriegsliteratur. Ihm wurde die Ehre zuteil, zusammen mit den Schriften jüdisch-marxistischer Verfasser von der NS-Studentenschaft verbrannt zu werden. Aber nicht nur den Nazis stieß die pazifistische Botschaft des Buches sauer auf, sondern auch der SPD: Der Unterrichtsausschuss des Preußischen Landtages unter Ministerpräsident Otto Braun verfügte, das Buch sei aus allen Schulbibliotheken zu entfernen.
1930 erhielt der Antikriegsfilm „Im Westen nichts Neues“ zwei Oscars. Wegen seiner pazifistischen Grundhaltung und der Darstellung von hoffnungslosen deutschen Soldaten wurde er vor allem von rechten Kräften in Deutschland angefeindet.
1980 erhielt der Antikriegsfilm „Im Westen nichts Neues“ einen Golden Globe als beste Filmproduktion für das Fernsehen. Politisch war diese Produktion mitten im Rüstungswettlauf des Kalten Krieges kaum umstritten.
2023 erhielt das Antikriegsdrama „Im Westen nichts Neues“ insgesamt vier Oscars – mehr als jeder andere deutsche Film zuvor – das meldete am 13. März um 04:36 die Frankfurter Allgemeine Zeitung.
Die Formulierung „Antikriegsfilm“ für das vom Streamingdienst Netflix finanzierte Opus erschien der FAZ-Stil-Expertin Maria Wiesner wohl nicht korrekt, denn um 06:51 aktualisierte sie die Meldung: Vier goldene Trophäen konnten die Macher des deutschen Kriegsfilms entgegennehmen.
Ja, was denn nun – Antikriegsfilm, Antikriegsdrama, Antikriegsroman oder doch Kriegsfilm?
Kommt darauf an, wie man den Stoff – „Trommelfeuer, Sperrfeuer, Gardinenfeuer, Minen, Gas, Tanks, Maschinengewehre, Handgranaten – Worte, Worte, aber sie umfassen das Grauen der Welt“ (Remarque) – betrachtet: skeptisch-ablehnend oder heroisch-begeistert.
Adolf Hitler zum Beispiel hat zweifellos ähnliche Erfahrungen an den Fronten des ersten Weltkrieges gemacht wie Erich Maria Remarque. Beide wurden verwundet und mit einem eisernen Kreuz dekoriert. Der eine entwickelte sich nach dem Krieg zum Verbrecher, zum Mörder von Millionen, zum Führer und größten Feldherrn aller Zeiten (Gröfaz), der andere wurde zu einem weltberühmten Autor und zur weithin gehörten Stimme des Pazifismus. Und jeder der beiden beanspruchte für sich, aus den Kriegserlebnissen die richtigen Lehren gezogen zu haben.
Kriegsverbrecher Hitler war selbstverständlich kein Freund von Erich Maria Remarque. Hitler war ein Fan des Schriftstellers Ernst Jünger. Der hatte auch im Ersten Weltkrieg gekämpft und war ebenso verwundet und dekoriert worden. Hitler hat Jünger offenbar mit großer Zustimmung gelesen, wie ein Brief vom 27. Mai 1926 belegt: „Sehr geehrter Herr Jünger! Ihre Schriften habe ich alle gelesen. In ihnen lernte ich einen der wenigen starken Gestalter des Fronterlebnisses schätzen …“ Ernst Jünger schildert in seinem Werk „In Stahlgewittern“, das auf seinen Kriegstagebüchern beruht, die Kampfhandlungen aus der Perspektive eines jungen Kriegsfreiwilligen, der sich zum erfahrenen Stoßtruppführer entwickelt. Ihm ist der Krieg ein schicksalhaftes Geschehen, dem die Menschen wie einer Naturgewalt (Gewitter!) ausgeliefert sind. Anspruchsvollen Literaturästheten, die sich am liebsten Landserhefte reinziehen, ist Kamerad Ernst Jüngers Werk ein steter Quell von Mannestugend und soldatischem Nationalismus: „Irgendwie drängt sich auch dem ganz einfachen Gemüt die Ahnung auf, dass sein Leben in einen ewigen Kreislauf geschaltet, und dass der Tod des einzelnen gar kein so bedeutungsvolles Ereignis ist“, schreibt Ernst Jünger.
Demgegenüber Remarque: Er prangert den Unsinn des gegenseitigen Tötens an, er stellt die Notwendigkeit des Krieges infrage, er salutiert nicht vor schneidigen Kriegern, er untersucht vielmehr, warum Menschen sich derartige Grausamkeiten antun. Er schreibt: „Vielleicht ist nur deshalb immer wieder Krieg, weil der eine nie ganz empfinden kann, was der andere leidet“, und – als besondere Ohrfeige für diejenigen, die ihre zwangsrekrutierten Truppen vom sicheren Schreibtisch aus in Marsch setzen: „Ich dachte immer, jeder Mensch sei gegen den Krieg, bis ich herausfand, dass es welche gibt, die dafür sind, besonders die, die nicht hingehen müssen.“
Wie werden Buch und Film „Im Westen nichts Neues“ heute aufgenommen?
Das Magazin „Der Spiegel“ stellt fest, das Buch „Im Westen nichts Neues“ wirke in Zeiten des russischen Angriffs auf die Ukraine aktueller denn je. Dieser Komparativ – was für ein dummes Geschwätz! Als ob es nicht zu allen Kriegszeiten ganz genauso aktuell gewirkt hat…
N-TV teilte Ähnliches mit: „Obwohl sich diese Geschichte um einen Konflikt dreht, der mittlerweile über 100 Jahre zurückliegt, erscheint sie vor dem Hintergrund des Ukraine-Kriegs aktueller denn je. Ein Angriffskrieg, der der sich verteidigenden Ukraine aufgezwungen wurde und aus dem es derzeit auch nur einen militärischen Ausweg zu geben scheint“. Bei soviel irritierendem „Schein“ fällt auf, dass es anscheinend nur einen militärischen Ausweg gibt, wenn es sich nicht sogar um mehrere scheinbare Auswege handelt…
Man kann sich schon vorstellen, dass es für die Propagandisten von Rüstung, Waffenlieferungen, Sanktionen und Feindbildern in Politik und Medien eine bittere Pille ist, dass ausgerechnet „in diesen Zeiten“ ein Antikriegsfilm Preise abräumt und den Pazifismus wieder verstärkt ins Gespräch bringt. Und sie müssen es ja wohl zum Kotzen finden, dass das Deutschland der Drückeberger, Feiglinge, Russland-Versteher, Kriegsdienstverweigerer, Ostermarschierer und Bundeswehr-Kaputtsparer, dass all diese kriegsverdrossenen deutschen Lumpenpazifisten international immer noch ein besseres Image haben als die Verfechter einer neuen deutschen Kriegsbereitschaft. Filmisch gesehen, jedenfalls.
Ob der Film allerdings ein Publikumserfolg wird, bleibt abzuwarten – ich wage mal die Prognose, dass er in der Ukraine kein großer Kassenerfolg sein wird. Kriegsherr Putin, fernab vom Schuss in Moskau, wird ihn sich vermutlich nicht ansehen, und wenn er denn deutsche Belletristik lesen sollte, gehört er gewiss nicht zu den Anhängern Remarques, sondern zu denen Jüngers, was an seinem gewalttätigen Verhalten leicht zu erkennen ist.
Aber dass der ehemalige ukrainische Botschafter in Deutschland und Vize-Außenminister der Ukraine, der durchgeknallte Herr Melnyk, an Wagenknecht und Schwarzer twittert „Hallo ihr beiden Putinschen Handlanger:Innen…Das Blut von ukrainischen Opfern vom Vernichtungskrieg wird ewig an euren Händen kleben“ – das ist ein derart grotesker Blödsinn, dass er weder Remarque noch Jünger zuzuordnen ist.
Offenbar ist dieser Herr Melnyk der Meinung, die Friedensforderungen sind den Forderungen nach Verteidigung der Ukraine keinesfalls gleichzusetzen. Und ganz in diesem Sinn treibt Annalena Baerbock, Feministin an der Spitze der Deutschen Lebensrettungsgesellschaft, alle Pazifisten im Diesseits und auch Erich Maria Remarque, seit 1970 im Jenseits vereint mit seiner Geliebten Marlene Dietrich und seiner Ehefrau Paulette Goddard, zur Verzweiflung mit ihrer Kriegspolitik: „Unsere Waffenlieferungen helfen Menschenleben zu retten: Eine menschenrechtsgeleitete Außenpolitik muss sich fragen, wie wir durch weitere Lieferungen Leben retten.“ Ich möchte Sie fragen, Frau Baerbock: Geben Sie mir recht, wenn ich behaupte, eine Kapitulation der Ukraine gleich zu Beginn des russischen Angriffs hätte -zigtausend Bürgerinnen und Bürgern das Leben gerettet? Oder sind Sie tatsächlich der Meinung, die Ukraine braucht deutsche Waffen in erster Linie, um den Menschen des Landes das Leben zu retten, und erst in zweiter Linie, um ihre nationale Unabhängigkeit, die so häufig mit Freiheit verwechselt wird, zu sichern? Legt Ihre Politik nicht nahe, dass das Leben vieler von Ihnen so gern beschworener Kinder lange nicht so wichtig ist wie die Verteidigung eines Staatswesens, das okkupiert ist von einer korrupten Verwaltung, antidemokratischen Oligarchen, rechtsradikalen Nationalisten und westlichen Geschäftsinteressen? Und rechtfertigt die angebliche Unabhängigkeit eines solchen Staatsapparates, überhaupt irgendeines Staatsapparates, so viele Tote?
Ach ja – diese Fragen sorgen allgemein für Verstimmung. Trotzdem – der letzte Satz des Antikriegsromans „Im Westen nichts Neues“ lässt sich leicht ins Heute übersetzen, und dann gilt er auch für den ukrainischen und für den russischen Wehrdienstleistenden:
„Er fiel im März 2023, an einem Tage, der so ruhig und still war an der ganzen Front, dass der Heeresbericht sich nur auf den Satz beschränkte, aus Bachmut sei nichts Neues zu melden.“

17. März 23


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