Hier ist mir keine Überschrift eingefallen
Einer der führenden Herren des Bundesverbandes des deutschen Groß- und Außenhandels schrieb 1997 einen Brief an den Vorsitzenden des Vorstandes von Gruner + Jahr, weil ihm der Artikel „Liberale – überall dabei, nirgendwo präsent“ in der Zeitschrift „Stern“ missfallen hatte. Höflich, aber bestimmt teilte der führende Herr dem Verlag mit:
„…In einer schwierigen Situation unserer Wirtschaft erwarten wir seitens der Verbände der Wirtschaft von einem Magazin wie dem „Stern“ Information und nicht Agitation. Wir können Kritik in der Sache vertragen, wenn sie konstruktiv ist. Der Stern-Artikel war destruktiv. Daher meine Bitte: Nehmen Sie auf die Linie des Blattes Einfluß im Sinne dieser Anmerkungen, die ich Ihnen zugleich auch im Namen vieler Kollegen übermittle…“
Das hat Klasse, nicht wahr? Pressefreiheit ja, aber nur im Sinne des Bundesverbandes, und der bestimmt, was konstruktive Kritik und was Agitation ist. Da muss der Briefschreiber nicht mal darauf hinweisen, dass so ein Bundesverband ausgezeichnete Beziehungen nach ganz oben hat, um mißliebige Journalisten abbürsten zu lassen…
26 Jahre später ist es reine Zeitverschwendung, noch den „Stern“ zu lesen, und in diesen Tagen feiern wir die erste „Hamburger Woche der Pressefreiheit“. Unter dem Motto „Freiheit für die Wahrheit“ ist Art.5 des Grundgesetzes der große Star: „Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemeinzugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten. Die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film werden gewährleistet. Eine Zensur findet nicht statt“.
In einer Hamburger Tageszeitung stand: „Pressefreiheit muss jeden Tag erkämpft werden – durch überzeugende Arbeit und durch loyale Leser und Zuschauer“, und der NDR ließ verlauten: „Die Pressefreiheit ist nicht nur im Ausland, sondern auch in Deutschland unter Druck… Auch Radikalisierung im Netz und Echokammern tragen zur Bedrohung der Pressefreiheit bei. Die wachsende Polarisierung ist eine zunehmende Gefahr für die Demokratie, da sie politisches Handeln erschwert“.
Da darf man wohl mal fragen: Wie definieren wir „loyal“? Wer übt den Druck aus? Wer polarisiert? Und wer erschwert politisches Handeln?
Hilfe zur Beantwortung dieser Fragen bieten folgende Anmerkungen:
Dass man russische und türkische Journalisten einlädt und in Veranstaltungen die unerträgliche Einschränkung der Meinungsfreiheit und die Bedrohung oder sogar Ermordung von Journalisten in ihren und anderen Ländern anprangert, geht in Ordnung.
Bedenklich und beschämend wird es aber, wenn in unseren Leitmedien in der Woche der Pressefreiheit null Kommentare, Berichte und Appelle erscheinen, die zur Solidarität mit Julian Assange aufrufen – den Mann, der immer noch in Großbritannien im Hochsicherheitsgefängnis HMP Belmarsh eingekerkert ist, weil er Kriegsverbrechen der USA öffentlich machte. Für wen soll Pressefreiheit gelten, wenn nicht für Assange und seine Enthüllungsplattform WikiLeaks, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, geheim gehaltene Dokumente allgemein verfügbar zu machen, sofern sie unethisches Verhalten von Regierungen, Unternehmen oder militärischen Einrichtungen betreffen und somit von öffentlichem Interesse sind?
Am ersten Tag, der ersten Hamburger Woche der Pressefreiheit fand eine Demonstration für Assange statt. Warum haben die Medien, die so lautstark Pressefreiheit für sich reklamieren, nicht für diese Demo mobilisiert oder wenigstens darüber berichtet? Haben da etwa führende Herren aus amerikanischen Regierungskreisen vernehmlich geknurrt und brieflich interveniert?
Vermutlich nicht: Politisches Wohlverhalten und rücksichtsvolle Dienstbarkeit demonstrieren deutsche Leitmedien „frei“-willig. Das liegt an ihrer Parteilichkeit: Wenn es um die Verteidigung der sogenannten westlichen Werte geht, kennen die Leit-Journalisten nur noch gut und böse, schwarz und weiß. Nationale Politik betrachten sie unter nur dem Aspekt, wie der Feind zielsicher und effektiv erledigt werden kann. So hat aus ihrer Sicht Russland nicht die Ukraine, sondern die gesamte europäische Sicherheitsordnung, die europäische Lebensart, die Werte und Strukturen in Europa – und damit letztlich auch Deutschland – angegriffen. Dieser Analyse entsprechend beschwören die Hardliner in den Leitmedien dann auch die Notwendigkeit einer deutschen Führungsverantwortung in Europa mit entsprechender militärischer Durchschlagskraft. Und für dieses Ziel wird hemmungslos polarisiert, simplifiziert, moralisiert, spekuliert, bei Bedarf auch diffamiert und wenn möglich skandalisiert.
Weil die Medien aber unermüdlich betonen, ihr ganzes Tun sei in den Dienst der demokratischen Werte gestellt, sind sie in Sachen Moral nahezu unantastbar. Wer da Zweifel äußert, wird ganz schnell als „Unterwerfungspazifist“ und als Feind im Inneren der Nation geoutet – wenn es um militärische Radikalisierung geht, kennt die Moralkeule baerbockscher Prägung keine Gnade.
Ganze Redaktionen sind längst verkommen zu Drückerkolonnen des politischen Systems, die uns täglich einen miesen Mix aus Nachrichten und Kommentaren servieren, leider allzuoft in erbarmungswürdigem Deutsch, in dem man den Opfern gedenkt, denen es das Leben gekostet hat.
Immerhin – die Menschenrechtsorganisation „Reporter ohne Grenzen“ sieht die Bundesrepublik in Sachen Pressefreiheit auf Platz 21 (hinter der Slowakei und Samoa). Möglicherweise, weil wir selbst rechtsradikalen Reaktionären jederzeit ein Forum anbieten: AfD-Funktionäre dürfen sich in den Leitmedien gleichberechtigt mit demokratischen Politikern äußern, und oft bleibt die Meinung dieser Leute ohne kritische Nachfrage oder Widerspruch. Die Parteichefin wird im „Sommerinterview“ des Fernsehens wie eine seriöse und staatstragende Hoffnungsträgerin behandelt, und AfD-Kommunalpolitiker werden als Sachwalter „der kleinen Leute“ zu jedem Fahrradweg und jedem Kita-Fest befragt. Die Medien verseuchen mit dem populistischen Unrat dann das ganze Land.
Auch das wirft Fragen auf: Wenn der Verfassungsschutz eine Partei für „gesichert rechts-extremistisch“ hält – warum gibt man dieser Partei immer wieder ein Podium? Warum lässt man diese gesichert rechtsextremen Leute am Genuss der Pressefreiheit teilhaben, wo man doch ganz genau weiß, Höcke und sein brauner Anhang werden Artikel 5 des Grundgesetzes sofort abschaffen, sobald sie an der Macht sind?
An dieser Stelle möchte ich bemerken: Ein verordneter Antifaschismus ist mir lieber als ein erlaubter Faschismus.
Die hochgepriesene demokratische Pressefreiheit endet, wenn die Interessen mächtiger Fernseh-Sponsoren beeinträchtigt werden, und sie kann leider auch nicht in Anspruch genommen werden, wenn die Zeitschriften-Herausgeber ihre politischen Ansichten verletzt und die Anzeigenkunden ihren Profit geschmälert sehen könnten.
Als Fernsehschaffender kann man heute jeden Schwachsinn, jeden schweinischen Witz und fast jede Politiker-Verhöhnung absolut folgenlos ablassen, aber wehe, ein Sportreporter beispielsweise sagt: „Dieses Bier, das die Fußballübertragungen sponsert, schmeckt furchtbar, eine widerliche Plörre!“ Der hat noch nicht das „ö“ von Plörre artikuliert, da ist er schon gefeuert.
Vorletzte Frage: Warum sind unsere Medien so beflissen und angepasst an die Interessen des großen Kapitals? Karl Kraus schrieb: „Weil keiner wagt, dem dicken Kraken an den Leib zu gehen, der das ganze Land bedrückt und dahockt: fett, faul und lebenstötend“. 14.Sept.23